Die Diagnose: Thriller (German Edition)
musste.
»Sie waren sehr verständnisvoll, Doktor. Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte sie.
Sie legte ihre Hand auf meine. Ihre Handfläche war warm, und in dem kurzen Moment, als sie sie dort liegen ließ, sah ich Tränen in ihren Augen. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihren Mann an Ort und Stelle geheilt, doch ich ging davon aus, dass wir ihn innerhalb von ein, zwei Monaten wieder einigermaßen auf die Beine bringen würden. Ich entschuldigte mich und ging zu Maisie, um mit ihr zu reden. Gute Nachricht: Auf York Ost war ein Bett frei. Ich wagte nicht, mir Duncans Reaktion auszumalen, wenn Harry gezwungen wäre, ein Doppelzimmer mit einem Psychotiker auf Zwölf Süd zu teilen.
Doch manche Menschen sind schwer zufriedenzustellen.
»Ausgeschlossen«, erwiderte Harry auf meinen Vorschlag, er solle freiwillig hierbleiben. Er war noch in Zimmer vier, war jedoch aufgestanden. Der Kittel reichte ihm halbwegs über die Knie, die Waden waren nackt, und das Zittern war schlimmer geworden.
»Mr Shapiro, ich verstehe Sie ja, aber ich halte es wirklich für das Beste, wenn Sie hierbleiben, damit wir Ihnen möglichst schnell helfen können.«
»Und wenn ich mich weigere?«, fragte er und starrte mich trotzig an.
Eine schwierige Frage, und die ehrliche Antwort lautete: Dann muss ich Sie einsperren . Ich versuchte es behutsamer zu formulieren. »Wenn ich ehrlich bin, dann bin ich sehr besorgt um Ihre Gesundheit, und es ist meine Pflicht, Sie zu schützen. Wir haben die Befugnis, Sie auch gegen Ihren Willen hierzubehalten.«
»Das klingt nach einer Drohung«, sagte er mit bebenden Nasenflügeln.
»So würde ich es nicht formulieren«, erwiderte ich besänftigend. »Aber ich halte es aus verschiedenen Gründen wirklich für das Beste, wenn Sie bei uns bleiben. Ihre Frau hat mir gesagt, dass sie Sie heute Nachmittag mit einer Waffe angetroffen hat, und das bereitet mir große Sorgen.«
Ich hoffte, wenn ich die Waffe erwähnte, würde er offen damit herausrücken, was er in dem Zimmer gedacht hatte, doch er antwortete nicht direkt. Er senkte den Kopf, bis der schlaff zwischen den Schultern hing. Dann seufzte er, sein Kampfgeist wich.
»Ich muss mit Nora reden«, sagte er.
Zehn Minuten später waren wir uns einig, und ich telefonierte mit der Stationsschwester von York Ost. Wir schickten Patienten aus der Notaufnahme nicht mit einem ausführlichen Bericht nach oben, sondern nur mit einer Zusammenfassung der Anfangsdiagnose und einer kurzen Einschätzung der psychischen Verfassung: Gefahr für sich selbst, Gefahr für andere, nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen − was auch immer der Grund war, jemanden auf der Geschlossenen einzuweisen, statt ihn mit ein paar Pillen und einem Termin zur ambulanten Behandlung nach Hause zu schicken. Sobald der Patient auf der Station einem Oberarzt und einem Assistenzarzt zugeteilt worden war, wurde er noch einmal untersucht. Meine Aufgabe war so gut wie erledigt.
»Ich nehme einen achtundfünfzigjährigen Mann mit Anpassungsstörung und Angst und depressiver Verstimmung oder schwerer Depression auf«, sagte ich und ging Harrys Symptome und Gemütserregung kurz durch. »Seine Frau befürwortet das und wird ihn morgen besuchen.«
Ich trat hinaus und sah, wie Pete Harry in einem Rollstuhl in Richtung Aufzug fuhr. Nora blickte ihnen nach. Alle Patienten, die aufgenommen wurden, wurden mit der Krankenakte auf dem Schoß im Rollstuhl nach oben gebracht, damit sie auf dem Weg dorthin nicht so leicht die Biege machen konnten. Ich dachte, es wäre das Letzte, was ich von ihm zu sehen kriegen würde.
3
In der Zeit waren viele wie Harry bei uns – nicht so bekannt und so mächtig wie er, und ihre Namen standen auch nicht außen auf dem Krankenhaus, doch alle umweht von derselben niedergeschlagenen, verwirrten Aura von abgestürzten Überfliegern.
Als Assistenzarzt hatte ich nicht gewusst, wie viele Fälle von klinischem Narzissmus ich behandeln würde, aber plötzlich war ich davon umzingelt. Man hatte uns einiges über das Krankheitsbild der narzisstischen Kränkung beigebracht, ein herber Schlag gegen das Ego des Egozentrikers und Manipulationskünstlers, dessen Persönlichkeit geformt worden war von Eltern, denen er nur mit Leistung Anerkennung abringen konnte und die ihm nie bedingungslose Liebe hatten zuteilwerden lassen. Die Wall Street schien eine große Anziehungskraft auf solche Menschen auszuüben, denn das Krankenhaus war voll davon − alle wollten eine Sonderbehandlung
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