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Die Dichterin von Aquitanien

Titel: Die Dichterin von Aquitanien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tereza Vanek
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beten, dass er dich nicht für deine Entscheidung straft«, meinte die Äbtissin zum Abschied, und ihre Worte klangen völlig ehrlich.
    Mit einer Kerze ausgestattet stieg Marie nun die Stufen hinab. Sie hätte sich gern von Hawisa und Guy verabschiedet, doch dazu war jetzt keine Zeit. Sie würde ihnen sobald wie möglich eine Nachricht zukommen lassen. Torqueri war vor zwei Jahren auf dem Friedhof des Klosters beigesetzt worden. Marie sah keine Möglichkeit, ihr Grab noch ein letztes Mal zu besuchen, aber sie würde die alte Vertraute stets in ihrem Herzen tragen. Nun musste sie einen raschen, unauffälligen Aufbruch vorbereiten. Jene Bücher und Pergamentrollen, die sie bei ihrer Ankunft mitgebracht hatte, wollte sie aus Dankbarkeit in dem Kloster lassen, dessen Bibliothek ihr wieder Freude am Leben geschenkt hatte. Sie brauchte nur ein Gewand, in dem sie nicht als Nonne zu erkennen wäre. Marie schlich in den Lagerraum, wo die weltlichen Kleider
der Novizinnen aufbewahrt wurden. Sie griff nach dem erstbesten Stück Stoff, das bei genauerer Betrachtung die Form eines zerschlissenen, grünen Bliauts annahm. Marie ließ etwas Wachs auf den Boden tropfen, um die Kerze befestigen zu können. Mit zitternden Händen streifte sie ihre schwarze Nonnentracht ab und wickelte sie zu einem Bündel, das sie unter dem Kleiderberg vergrub. Dann schlüpfte sie in den Bliaut, der lose an ihr herabhing und so lang war, dass sie ihn hochhalten musste, um beim Gehen nicht über den Saum zu stolpern. Den Nonnenschleier behielt sie auf, um ihr kurz geschorenes Haar zu verbergen. Er konnte als schlichter Kopfputz einer armen Frau angesehen werden, hoffte sie.
    Jean wartete an jener Stelle, wo sie sich getrennt hatten. Er drückte Marie kurz an sich, dann hob er sie auf das Pferd.
    »Sind wir zu zweit auf Dauer nicht zu schwer? Ich sollte ein eigenes Reittier haben«, meinte Marie. Er nickte nur.
    »Das bekommst du bei nächster Gelegenheit. Jetzt müssen wir los.«
    Als er hinter ihr im Sattel saß und seine Arme um sie legte, war sie plötzlich froh, sich ein Pferd mit ihm teilen zu müssen. Seine Hände zogen den Schleier und auch die weiße Binde von ihrem Kopf. Stoffbahnen segelten auf das feuchte Gras.
    »Du siehst aus wie ein Junge«, flüsterte Jean, als seine verkrüppelte Hand ihr durch die Haarstoppeln fuhr.
    »Deshalb brauche ich eine Kopfbedeckung, bevor wir den nächsten Ort erreichen«, erklärte sie mit einem wehmütigen Blick auf die letzten, vertrauten Kleidungsstücke.
    »Du bekommst meinen Mantel mit Kapuze, sobald wir haltmachen«, entgegnete Jean und trieb das Pferd an. Marie wandte sich noch einmal um. Die Umrisse der Klostermauern waren im nächtlichen Dunkel nur Schatten, lösten
dennoch leise Sehnsucht in ihr aus. Wieder einmal nahm sie Abschied von einem vertrauten Zuhause.
    »Wohin reiten wir eigentlich?«, wollte sie plötzlich wissen.
    »Nach Prittlewell. Von dort aus nehmen wir ein Schiff nach Barfleur.«
    Sie lehnte sich zurück. Äste streiften ihr Gesicht, doch sie taten nicht weh. So wie einst bei ihrer Flucht aus Woodstock meinte sie, dem Sternenhimmel über ihr entgegenzufallen.
    »Nach Prittlewell wollte ich schon einmal«, erzählte sie. »Vor sehr vielen Jahren.«

Epilog
    September 1189
     
    V ivat Rex!«, erschall es aus zahllosen Kehlen. Marie schritt durch die mit duftenden Gräsern bestreuten Straßen Londons, das kaum wiederzuerkennen war. Bunte Tücher zierten die Hauswände, Blumengirlanden waren an den Fenstern aufgehängt worden, und die stets geschäftige Stadt wurde nun von Menschenmassen überschwemmt. Als kleines Glied eines riesigen Ungeheuers wurde Marie Richtung Westminster geschoben, spähte über die bewegliche Mauer aus Schultern und Köpfen all jener Menschen, die größer waren als sie selbst, und hielt Amélies Hand eisern umklammert. Kurz wandte sie den Kopf, um sich zu versichern, dass auch ihr Stiefsohn Robert sich noch in der Nähe befand. In ihrem anderen Arm hielt sie Adèle, ihre zweite Tochter, die sie vor drei Jahren geboren hatte und niemals hatte weggeben müssen. Es fiel ihr immer noch schwer, sich von diesem Mädchen auch nur für ein paar Stunden zu trennen, obwohl es vielleicht vernünftiger gewesen wäre, ein kleines Kind nicht mit in dieses Getümmel zu zerren. Doch Adèle betrachtete die Prozession mit leuchtenden Augen.
    Richard überragte wie üblich all seine Gefolgsleute. In einem seidenen Mantel, dessen Kragen und Schleppe mit weichem Zobelfell verziert

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