Die Dichterin von Aquitanien
waren, ritt er auf das Eingangstor der Kirche von Westminster zu. Vier Träger hielten einen Baldachin über sein rotgoldenes Haupt. Hinter sich hörte Marie
leises, aber aufgeregtes Gemurmel. Coeur de Lion. Löwenherz. Der Name, den Richard erworben hatte, indem er geschickt und erbarmungslos alle Aufständischen in die Knie zwang, war ihm nach England vorausgeeilt.
Ein Stück hinter ihm ritt eine vertraute Gestalt, ebenfalls in Seide und kostbaren Pelz gehüllt. Aliénor hatte das Gesicht einer alten Frau, doch die Haltung eines stolzen, energischen Menschen, dem das Alter nichts anzuhaben vermochte. Mit siebenundsechzig Jahren hatte sie über Henri triumphiert, indem sie ihn überlebte. Richards aufwendige Krönung, die stürmische Begrüßung in einem Land, das er kaum je besucht hatte, waren allein ihr Werk. Jetzt trat ihr Lieblingssohn in das Kirchengebäude, um zum König jener kalten, regnerischen Insel zu werden, die er nie gemocht hatte. Hinter ihm wurden auf seidenen Kissen die Insignien der Herrschaft hineingetragen: die goldenen Sporen, das Szepter und der scharlachrote Umhang, den Richard während der Zeremonie erhalten sollte. Unter den Trägern dieser Kissen erblickte Marie den ersten Geist aus der Vergangenheit: Ritter William, einst Befehlshaber der Truppen des jungen Henry, hatte sich auf die Seite des Vaters geschlagen, und als dieser gestorben war, nun wohl auf die des noch lebenden Sohnes, der sein Nachfolger sein würde. Marie hatte Gerüchte gehört, dass für den ehrgeizigen, im Kampf fast unschlagbaren William die Heirat mit einer reichen Erbin geplant war. Im Geiste dankte sie plötzlich ihrer Tante, der Äbtissin. Es war vermutlich eine kluge Idee gewesen, ihre immer noch beliebten Fabeln diesem Mann zu widmen, dessen Aufstieg keine Grenzen gesetzt waren.
Geistliche und Vasallen gingen hinter den Kissenträgern her. Ein scharfes, fast adlerartiges Profil erschien in Maries Blickfeld. Sie beugte sich vor, doch konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, ob es der gealterte Rhys ap Gruffydd war. Auf
einmal fiel ihr jene Krönung vor vielen Jahren in Limoges wieder ein, als sie selbst als Teil der fürstlichen Prozession hinter Aliénor her stolziert war. Nun gehörte sie zu einer Menge unbedeutender Schaulustiger, doch als sie Jean mit dem hinteren Rest der Gefolgschaft vorbeiziehen sah, empfand sie keinerlei Bitterkeit.
»Seht, da geht euer Vater!«, rief sie den Kindern zu und hob ihre Hand, um zu winken und laut seinen Namen zu rufen. Zu ihrem Staunen schien er sie zu hören, denn sein Kopf wandte sich den Zuschauern zu. Sie hielt Adèle in die Höhe, denn sie selbst war zu klein, um aus der Menge herauszuragen. Jean löste sich aus Richards Gefolge, um sich entschlossen einen Weg durch das Getümmel zu bahnen.
»Marie! Ich muss dir etwas sagen!«, rief er ihr zu, während er wütend protestierende Menschen zur Seite schubste. Sie fragte sich, ob es nicht ungeschickt war, sich in diesem wichtigen Augenblick von Richard abzuwenden, doch die Freude, ihn in den Armen zu halten, verdrängte bald schon alle Bedenken.
»Wir haben endlich ein Lehen. Richard hat es mir versprochen«, rief er laut, um den allgemeinen Jubel zu übertönen. Marie glaubte zuerst, sich verhört zu haben, doch das glückliche Funkeln in Jeans Augen verdrängte ihre Bedenken. Fünfzehn Jahre gemeinsamen Hoffens und Wartens gingen zu Ende. Die Erkenntnis war so verwirrend, dass sie inmitten all dieser Menschen zunächst nichts weiter verspürte als den Drang, laut loszulachen.
»Wo ist es denn? In deiner Heimat, bei Bordeaux?«
Zu ihrem Staunen schüttelte Jean den Kopf. Das Strahlen seiner Augen wurde etwas schwächer.
»Hier in England. Richard hat jetzt einiges an Ländereien zu vergeben, und so bin ich eben auch nicht leer ausgegangen. Es ist an der Grenze zu Wales, fürchte ich.«
Leicht verunsichert blickte er in Maries Gesicht, und sie drückte ihn an sich.
»Hauptsache endlich eigenes Land! Ich werde dich die englische Sprache lehren müssen, dann bist du als normannischer Herr weniger unbeliebt«, erklärte sie, um nach kurzem Überlegen hinzuzufügen: »Das Walisische sollten wir vielleicht auch gemeinsam in Angriff nehmen.«
Jean lachte.
»So werde ich unter deiner Obhut noch zum Gelehrten!«, rief er und wandte sich den Kindern zu, um ihnen die frohe Nachricht mitzuteilen. Robert strahle, Amélie lächelte nur verhalten. Sie liebte ihr Heimatdorf, doch seit dem Tod ihrer Großmutter wollte sie bei
Weitere Kostenlose Bücher