Die Dichterin von Aquitanien
und richtete sich auf. Ihr Gesicht bekam einen unerwartet strengen Zug.
»Du hast ein Gelübde abgelegt«, stellte sie fest.
Marie zuckte zusammen. Mit diesem Hieb hatte sie nicht gerechnet, aber das war wohl dumm von ihr gewesen.
»Weil Ihr dazu gedrängt habt«, rief sie ihrer Tante in Erinnerung.
»Ihr wolltet mich hier als Ordensschwester, damit ich unterrichten kann. Ich sagte Euch von Anfang an, wie es um mich steht. Ihr habt mir versprochen, mich niemals gegen meinen Willen festzuhalten.«
Die grauen Augen der Äbtissin, die wie aus Henris Gesicht geschnitten waren, musterten nochmals die Listen auf dem Tisch. Maries Tante liebte Zahlen. Sie waren klar und eindeutig in ihrer Aussage.
»Ich dachte nicht, dass dein Ritter noch kommen würde«, gestand sie unumwunden. »Wenn eine meiner Nonnen das Kloster verlässt, muss ich es dem Bischof melden. In deinem Fall würde es sogar der König erfahren. Man wird dich jagen, Marie. Und deinen Ritter strafen, weil er dich entführen wollte.«
»Aber er entführt mich doch nicht! Ich gehe freiwillig mit ihm«, begehrte Marie auf. Sie hatte dieses Kloster niemals als Gefängnis empfunden, aber ihre geliebte Tante wollte es auf einmal in ein solches verwandeln. Verstört blickte sie in das vertraute Gesicht. Die Äbtissin schüttelte nur den Kopf.
»Darauf wird es nicht ankommen. Kein Mann darf eine Nonne mit sich nehmen.«
»Ich kam hierher, weil der König mir keine Wahl ließ, doch mit der Zeit wurde dieser Ort zu meinem Zuhause. Ich war zufrieden als Nonne, obwohl es nicht meine Berufung war. Wollt Ihr, dass ich jetzt zu Eurer Gefangenen werde, die mit Gott hadert, weil er sie in dieses Schicksal zwang?«
Marie erschrak über die Heftigkeit ihrer Stimme, fürchtete eine Zurechtweisung, doch die Äbtissin senkte nur den Blick. Auf einmal schien sie alt und niedergeschlagen. Nochmals nippte sie an dem Weinpokal.
»Nein«, begann Maries Tante leise. »Eben das will ich nicht. Wenn du gehen willst, dann tue es noch heute Nacht,
denn ich will kein Gerede wegen weiterer heimlicher Treffen mit diesem Mann in Edwardstowe haben. Ich werde mir einen Grund ausdenken, warum du in ein anderes Kloster gegangen bist, damit die anderen Schwestern sich nicht über dein Verschwinden wundern. Es gibt aber etwas, das du mir versprechen musst.«
Erleichtert nickte Marie. Sie sah, wie ihre Tante die Bibel aus einem Regal holte.
»Du musst schwören, niemals öffentlich als Dichterin aufzutreten, solange Henri noch lebt.«
Der lederne Einband der Bibel wurde ihr entgegengehalten. Marie erstarrte ratlos.
»Aber warum?«, flüsterte sie.
»Weil du zu viel Talent besitzt. Dein Ruf würde bis zu Henri dringen. Er hat niemals nach dir gefragt, und ich kann dein Fortgehen vor ihm verheimlichen. Doch falls er von einer Dichterin Marie irgendwo außerhalb seiner Ländereien hört, wird er sogleich begreifen, dass du es bist. Ich werde Schwierigkeiten bekommen, weil ich deine Flucht verschwieg.«
Marie presste ihre Finger an die Schläfen. Allmählich bekamen die Worte einen Sinn, doch war er unstimmig und voller Löcher. Die Äbtissin bräuchte ihre Flucht nur etwas später zu melden, damit sie Gelegenheit hätte, aus Henris Gebieten zu verschwinden. Sie holte Luft, um ihr diesen Vorschlag zu unterbreiten, aber dann machte eine neue Erkenntnis sich in ihr breit, die sie verstummen ließ.
Das war nicht der wirkliche Grund.
Ihre Tante war nicht anders als Henri und Aliénor. Sie liebte es, über ein mächtiges, reiches Kloster zu herrschen, genoss den Handkuss ihrer Untergebenen und lächelte stets zufrieden, wenn sie »Serenissima« genannt wurde. Eine berühmte Dichterin unter ihren Nonnen zu wissen, gefiel ihr,
und wenn sie diese Dichterin verlor, so sollte auch niemand anderer mehr sie beanspruchen dürfen.
Marie atmete aus. Ihr fehlte jeglicher Drang, nun aufzubegehren und einen Streit zu beginnen. Auf den Ruhm kam es nicht an. Sie wollte nur weiter Geschichten ersinnen, und das konnte sie auch ohne die Bibliothek des Klosters. Sie würde einen Weg finden, weiter zu schreiben und keine Aufmerksamkeit auf ihre Person zu lenken. Ruhig hob sie ihre Hand, um sie auf das weiche Leder zu legen.
»Ich schwöre!«
»Vielleicht wirst du es bereuen«, sagte ihre Tante wehmütig.
»Vielleicht«, gab Marie zu. »Doch wenn ich jetzt nicht mit Jean fortgehe, dann bereue ich es mit Sicherheit.«
Sie erhob sich und schloss ihre Tante nach kurzem Zögern in die Arme.
»Ich werde zu Gott
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