Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
Innenminister war, dieses Erbe der staatlichen Bürgerspionage antrat, war schnell klar, dass er nicht im Traum daran dachte, ein derartiges Vorgehen abzustellen. Stattdessen wollte er Gesetze immer weiter verschärfen, Ermittlungskompetenzen erweitern und neue Ideen der Ermittlungsbehörden umsetzen. Zu seinen größten Misserfolgen gehörte der vom Chaos Computer Club so getaufte »Bundestrojaner«. Dabei ging es darum, dass Ermittlungsbehörden per Software über das Internet auf Computer zugreifen dürfen. Offiziell sprach man von einer »Onlinedurchsuchung«. Das erinnert an die Hausdurchsuchung, wenn Beamte der Ermittlungsbehörden eine Wohnung auf verdächtiges Material durchsuchen. Wenn sie das getan haben, gehen sie wieder. Anders der Bundestrojaner: Er sollte sich auf dem Computer des Beobachteten wie ein Virus einnisten, dort bleiben und Informationen an die Ermittlungsbehörden übermitteln. Eine Art Überwachungskamera im Rechner des Verdächtigen.
Für Menschen, die mit Computern am ehesten ihren Arbeitsplatz verbinden, mag das noch akzeptabel erscheinen. Aber wer selbst privateste Kommunikation über seinen Computer durchführt, mit seinen besten Freunden, seiner Frau oder vielleicht auch seiner Geliebten chattet, mailt, per Internetverbindung redet, für den ist dies ein Eindringen in einen Bereich, in dem derStaat nichts verloren hat. Bei Menschen, die viel digital kommunizieren, sind auf dem Computer oder Telefon oft viel privatere und wesentlich mehr Informationen gespeichert als in der gesamten Wohnung. Welche Vorlieben Sie haben, darüber kann Ihre Wohnungseinrichtung oft wenig erzählen. Der Speicher Ihres Browsers hingegen vielleicht viel mehr: Sind Sie zum Beispiel bei GayRomeo unterwegs? Oder schauen Sie gerne Pornos aus Japan? Schreiben Sie ihrer Geliebten vielleicht E-Mails oder SMS? Sind Sie vielleicht gleichzeitig in einem katholischen Forum und einer Swinger-Community angemeldet?
Schily und Schäuble konnten die Problematik dieser Erweiterung und teilweisen Verlagerung des realen Lebens in den digitalen Raum sowie den damit verbundenen neuen Bedarf an Schutz vor staatlicher Kontrolle noch weitgehend ignorieren. Zu wenige Politiker fühlten sich kompetent, zuständig oder gar den Bürgern gegenüber verpflichtet, ihre Freiheit auch im digitalen Raum zu verteidigen. Denn schließlich ging es um den »Kampf gegen den Terror«. George W. Bush hatte das Motto vorgegeben: Entweder man ist mit ihm, oder für die Terroristen.
In diesen Vorgängen ist ein einfaches Muster zu erkennen: Es wird ein Feindbild gesucht, mit dem sich niemand gemeinmachen möchte – und das es schwer macht, dagegen zu argumentieren. Keiner kann Terrorismus, Kinderpornografie und Kriminalität gut finden. Dann werden Fakten geschaffen. Und diese sind nur noch schwer aus der Welt zu schaffen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Zugangserschwerungsgesetz, die Stoppschild-Initiative. Hier bestand die historisch wohl einmalige Situation, dass die Bundesregierung ein Gesetz auf den Weg gebracht, der Bundestag das Gesetz beschlossen und der Bundespräsident es ausgefertigt hat, dass dieses aber »nicht angewendet« wurde. Niemand kann vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen klagen, weil auch niemand davon betroffen sein kann.
Ob Onlinedurchsuchung, Vorratsdatenspeicherung oder andere, ähnliche Gesetze: Immer wieder mussten die Karlsruher Richter dem Gesetzgeber klare Grenzen aufzeigen. Für die Internetpolitik sind die Verfassungsrichter in der Vergangenheit oft die einzige Hoffnung gewesen. Sie sind unabhängig von der öffentlichen Meinung und kaum unter Druck zu setzen. Meistist das Amt des Verfassungsrichters die letzte Karrierestation. Roman Herzog, der im Anschluss noch Bundespräsident wurde, war eine der Ausnahmen. Es ist ein Armutszeugnis für die bundesdeutsche Politik, wenn ein Gesetz nach dem anderen vom Bundesverfassungsgericht kassiert wird, weil es an ernsthafter Beschäftigung mit den Auswirkungen mangelte, wie die Richter den Politikern immer wieder ins Stammbuch schreiben. Dabei zählen die Karlsruher Richter sich eigentlich keineswegs zur technisch-digitalen Elite des Landes.
Das haben Menschen in allen politischen Parteien erkannt. Der Weckruf war das für viele überraschend gute Ergebnis der Piratenpartei bei der Bundestagswahl 2009: Exakt 847 870 Mal machten Wähler ihr Kreuz bei der Internetprotestpartei. Das entspricht respektablen zwei Prozent. Die meisten waren junge Menschen, die
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