Die Donovans 4: Der verzauberte Fremde
Ausschau zu halten. Meist sah sie ihn früh am Morgen oder in der Abenddämmerung, direkt am Waldrand, im Schatten der Bäume.
Er beobachtet das Haus, dachte sie.
Ihr wurde klar, dass das, was sie empfand, wenn sie ihn einmal nicht sah, Enttäuschung war. Sie stellte sogar Teller mit Essensresten hinaus, in der Hoffnung, ihn mit diesem Futter anzulocken, ihn zu einem regelmäßigen Besucher werden zu lassen, den sie als Mitbewohner ihrer kleinen Welt hier draußen betrachtete, der schon fast zu ihrem Leben gehörte.
Überhaupt dachte sie viel an den Wolf. Fast jeden Morgen erwachte sie und konnte sich an Traumfetzen erinnern, in denen Bilder von dem Wolf auftauchten, wie er in der Nacht an ihrem Bett gesessen, wie sie die Hand ausgestreckt und sein seidiges Fell gestreichelt hatte.
Manchmal vermischten sich die Grenzen, und im Traum wurde der Wolf zu ihrem Nachbarn. Dann wachte sie morgens auf, zitternd vor sexueller Frustration und Scham über sich selbst.
Wenn sie es logisch betrachtete, so war Liam Donovan das einzige menschliche Wesen, zu dem sie in den letzten Wochen Kontakt gehabt hatte. Daher war es nicht verwunderlich, dass er, noch dazu als ausgesprochen ansehnlicher Vertreter der männlichen Spezies, sich für erotische Träume geradezu anbot.
Lieber beschäftigte sie sich jedoch mit dem Wolf, erfand eine Geschichte um ihn. Sie bildete sich gern ein, dass er ihr Wächter sei und sie vor allen bösen Geistern beschützte, die dort im Wald leben mochten.
Die meiste Zeit verbrachte sie mit Lesen, Zeichnen oder langen Spaziergängen. Und versuchte dabei zu verdrängen, dass es bald an der Zeit war, den versprochenen wöchentlichen Anruf bei ihren Eltern zu absolvieren.
Oft hörte sie Musik, die durch ihre Fenster drang oder durch die Luft im Wald schwang. Flöten, Glocken und Streicher. Einmal glaubte sie eine Harfenmelodie zu hören, so süß und rein, dass es ihr das Herz zusammenzog.
Und während sie die Ruhe und den Frieden genoss, während sie auskostete, dass niemand Anforderungen an sie stellte, niemand ihre Zeit in Anspruch nahm, durchlebte sie doch auch Momente solch intensiver Einsamkeit, dass es sie geradezu körperlich schmerzte. Aber auch wenn das Verlangen danach, eine menschliche Stimme zu hören, menschlichen Kontakt zu haben, an ihr zerrte, so brachte sie es nicht über sich, Liam aufzusuchen.
Ihn vielleicht auf eine Tasse Kaffee einladen, dachte sie, als sie beobachtete, wie die Dämmerung sich über den Wald senkte und der Wolf sich immer noch nicht hatte blicken lassen. Oder vielleicht zu einem gemeinsamen Abendessen. Eine kleine, unverbindliche Unterhaltung.
Abwesend drehte sie eine Haarsträhne um ihre Finger.
„Ist er denn nie einsam?“, fragte sie sich. „Was macht er denn nur den ganzen Tag, die ganze Nacht?“
Der Wind heulte auf, in der Ferne grollte Donner. Ein Gewitter, dachte Rowan. Sie ging zur Tür und zog sie auf, um die kühle Luft hereinzulassen.
Am Himmel konnte sie die sich auftürmenden Wolken sehen, am Horizont zuckte ein Blitz durch die Nacht.
Es würde wunderbar werden, mit dem rhythmischen Getrommel des Regens auf dem Dach einzuschlafen. Oder noch besser, sich mit einem guten Buch ins Bett zu verkriechen, die halbe Nacht durchzulesen und dem Regen und dem Wind zu lauschen, der ums Haus heulte.
Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Sie wandte den Blick – und sah direkt in die leuchtenden Augen des Wolfs.
Sie wich einen Schritt zurück und presste eine Hand an die Kehle. Ihr Puls hämmerte erschreckt. Der Wolf war schon in der Mitte der Lichtung, näher, als er je gekommen war. Nervös rieb sie sich die Handflächen an der Jeans und trat auf die Veranda.
„Hallo.“ Sie lachte leise, hielt aber den Türknauf mit einer Hand fest umklammert. Nur für alle Fälle … „Du bist so schön“, murmelte sie, mehr zu sich selbst, während der Wolf dastand, regungslos wie eine Statue. „Ich warte jeden Tag auf dich. Aber nie frisst du das Essen, das ich für dich bereitstelle. Auch kein anderes Tier. Wahrscheinlich bin ich einfach keine gute Köchin. Ich wünschte, du würdest näher kommen.“ Als ihr Puls sich wieder ein wenig beruhigt hatte, ging sie langsam in die Hocke. „Ich werde dir nichts tun“, murmelte sie. „Ich habe über Wölfe gelesen. Ist es nicht seltsam, dass ich ein Buch über dich mitgebracht habe? Dabei erinnere ich mich nicht einmal daran, es überhaupt eingepackt zu haben. Aber andererseits … ich habe so viele Bücher
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