Die Drachen Der Tinkerfarm
ihrem Alter.
Lucinda spülte ihr Glas aus und stellte die Limonade zurück, dann spazierte sie zur Haustür hinaus. Die Veranda war leer, die Kiesauffahrt davor desgleichen. Wozu sie wirklich Lust hatte, war, ein paar Tiere angucken zu gehen, die Einhörner vielleicht, obwohl sie einen Heidenrespekt vor ihnen hatte. Sie konnte das Horn nicht vergessen, das an ihrem Gesicht vorbeigezischt war wie ein blitzschnell gezogenes Schwert. Und sie waren so wild! So frei und ungehindert wie Wolken! Sie konnten bestimmt jeden Zaun überspringen, wenn sie wollten, auch wenn er noch so hoch war.
Lucinda schlenderte zum Hühnerstall hinüber. Tyler war in denkbar schlechter Stimmung.
»Hast du das … das Ding versteckt?« Er hielt die Hände, als ob er Scharade spielte. Buch.
Sie verdrehte die Augen. »Na klar.« Sie sah ihm einen Moment dabei zu, wie er mit Seifenwasser den ekligen Boden des Hühnerstalls scheuerte. Der Geruch war grauenhaft. Zu ihrer eigenen Verwunderung jedoch hörte sie sich fragen: »Soll ich dir helfen?«
Er hörte kurz auf zu schrubben und starrte sie an, als ob sich ein außerirdisches Wesen des Körpers seiner Schwester bemächtigt hätte. »Nö, geht nicht. Ich muss es selber machen, hat mir die Böse Hexe erklärt. Sie hat mich auf dem Kieker, weil ich rumgeschnüffelt habe.« Er lächelte. »Trotzdem danke.«
Auf dem Rückweg vom Hühnerstall sah sie in der Ferne Colin Needle, der an der Tür des Krankenstalls kauerte und das Schloss untersuchte. Sie beschloss hinzugehen.
»Hallo, Colin«, sagte sie. Er schnellte in die Höhe, als hätte er sich verbrannt.
»Oh! Hallo, Lucinda. Schön, dich zu sehen.« Er winkte – weniger ihr als blind in die Gegend. »Hab leider gerade keine Zeit zum Plaudern – zu viel zu tun. Tut mir leid.« Viel schneller als sonst eilte er mit seinen steifen Schritten an ihr vorbei zum Haus wie ein Mann auf Stelzen, der dringend zum Klo musste.
Lucinda drückte die Klinke. Die Tür zum Krankenstall war auf. Sie fragte sich, warum er sie so sorgfältig untersucht hatte. Vorsichtig steckte sie den Kopf hinein. »Hallo?« Als sie keine Antwort bekam, trat sie ein.
Zuerst dachte sie, in dem weitläufigen, hohen Stall wäre niemand außer ihr und dem regungslosen Riesenkörper des Drachen, der lang ausgestreckt in seinem Gehege lag wie ein reparaturbedürftiges Schiff im Dock. Bei dem Gedanken, mit einem solchen Ungeheuer allein zu sein, ging sie gleich wieder rückwärts zur Tür.
»Miss?« Der Arbeiter Haneb kam in einem unförmigen grauen Ganzkörperanzug vom anderen Ende des Stalls auf sie zu. Seine glatten schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht, und er hielt den Kopf unnatürlich weggedreht, um seine Narben zu verbergen.
»Kommen wegen Colin, Miss?«, fragte er sie. »Ist weggegangen. Oder wegen Master Walkwell oder Master Ragnar? Sind weggefahren, Medikamente holen.«
»Medikamente?« Sie ließ die Tür los. Der Knall, mit dem sie hinter ihr zufiel, wurde von einem tiefen Grollen aus dem Käfig beantwortet, bei dem Lucinda das Zwerchfell vibrierte. »Ist sie immer noch krank? Ich dachte, sie wäre wieder gesund.«
»Meseret?« Er schüttelte traurig den Kopf, die entstellte Gesichtshälfte weiter sorgsam abgewandt. »Wir wissen nicht. Vielleicht ist nur Trauer über ihr Junges … dass es stirbt …« Er zuckte die Achseln, rang nach Worten. »Um mehr zu erfahren, wir geben nächste Woche … äh …«, er schluckte, »… Schlafmittel. Dann nehmen Ei, und Master Walkwell und Master Gideon können untersuchen.«
So viel hatte sie Haneb noch niemals reden hören.
Lucinda blickte den Käfig an und versuchte, tapferer zu erscheinen, als sie war. Allein der Anblick des riesigen Drachenrückens, mit Hornplatten gezackt wie bei einem Alligator, aber breit wie ein Bus, benahm Lucinda den Atem. Einem derart großen Lebewesen so nahe zu sein war unbeschreiblich furchterregend. Wenn Meseret eine jähe Bewegung machte, sagte sich Lucinda, würde sie auf der Stelle aus dem Stall rennen, auch wenn ihr das später noch so peinlich wäre.
Die Drachin lag mit ihrem Ei zwischen den Vorderbeinen auf dem Bauch wie ein erschöpfter Hund mit seinem Lieblingsspielzeug. Ausgestreckt reichte sie bis ans hintere Ende des Käfigs. Ihre großen Hinterbeine waren unter der Ausbuchtung ihres hell schimmernden Bauches kaum zu sehen. Das Ei kam Lucinda diesmal überraschend klein vor. Es war eine groteske Vorstellung, dass ein so großes Tier wie Meseret anfangs kleiner als ein
Weitere Kostenlose Bücher