Die Drachen Der Tinkerfarm
einzutreten. »Wieso nennst du es Spukzimmer?«, fragte sie flüsternd.
Er führte sie zu dem Spiegel an der Waschkommode und richtete die Taschenlampe darauf. Zuerst sah er nur wie ein ganz gewöhnlicher Spiegel aus, der Tyler mit seiner Lampe, Lucinda und das Zimmer reflektierte. Doch nach einer Weile sah er immer noch genauso aus.
»Kapier ich nicht«, sagte seine Schwester.
»Voriges Mal war es anders.« Tyler war verlegen. Er hörte die Aufregung in seiner Stimme, und es passte ihm gar nicht, dass er wie ein kleiner Junge klang. »Ich konnte mich sehen, aber ich war anders – andere Sachen und so. Ich war nicht genau derselbe. Und das Licht im Zimmer war auch anders, wie zu einer andern Tageszeit. Ich lüge nicht, Lucinda!«
»Ich glaube dir«, sagte sie zu seiner Überraschung. »Wir haben Einhörner und einen Drachen gesehen, warum soll es da keinen Spukspiegel geben?«
Tyler atmete tief aus. Er hatte nicht erwartet, dass sie ihm glaubte. Er fühlte sich plötzlich so viel leichter, dass er fast meinte, in die Luft emporfliegen zu können wie Zaza. »Gut. Na, jedenfalls dieses Stück Papier habe ich auch hier gefunden – auf dem Fußboden. Wir sollten die Schubladen durchgucken.«
Die meisten der Kommodenschubladen waren leer, doch ganz unten rechts fanden sie einen antiquierten Federhalter, einen, den man noch in ein Tuschefass tunken musste. Der Halter war hinten etwas abgenagt, und der Boden der Schublade war zum Teil herausgebrochen, so dass sie auf das Dunkel unter der Kommode durchgucken konnten. Tyler wollte sie gerade wieder zuschieben, da hielt Lucinda seinen Arm fest und deutete auf etwas. Ein vergilbtes Papierfitzelchen hing an der schroffen Kante des abgebrochenen Schubladenbodens. Tylers Herz schlug schneller. Es war nicht viel größer als ein abgeschnittener Fingernagel, doch als er es abzupfte und an das beschriebene Stück hielt, hatte das Papier genau den gleichen Farbton.
Sie versuchten, die Waschkommode von der Wand abzurücken, aber sie war entweder viel schwerer, als sie aussah, oder sie war an die Wand geschraubt worden, vielleicht damit der klotzige Spiegel obendrauf das ganze Möbel nicht zumUmkippen brachte. Tyler ging auf alle viere und stocherte mit dem kaputten Federhalter in dem Loch im Schubladenboden herum. Irgendetwas war da noch. Er angelte danach, bis ihm der Schweiß in die Augen lief und auf den staubigen Fußboden tropfte. Da kam ihm die Idee, es nach vorn zu schieben, wo er mit der Hand herankam und das Ding nach und nach hervorfummeln konnte.
Lucinda beugte sich heran, als er es hochhielt. Es war ein ledergebundenes Notizbuch, dessen Seiten genauso aussahen wie die eine, die er auf seinem Bett gefunden hatte. Es war von Mäusen oder anderen Nagern stark angefressen, so dass viele Seiten kaum mehr als verklebte Papierkringel waren. Dennoch ergab ein rasches Durchblättern, dass noch reichlich Geschriebenes auf den Seiten erhalten geblieben war – die Mäuse hatten nicht alles gefressen.
»Sieh dir den Buchdeckel an«, sagte Tyler. Vom einstigen Golddruck war als abgestoßener Rest noch zu lesen:
…tum von Oc avi M. T nker, Esq.
Er zitterte vor Aufregung. »Es ist wirklich seins – und wir haben es gefunden. Aber wir dürfen es niemand verraten.«
Lucinda nickte mit großen Augen.
Nebenan wartete Zaza auf dem Bild ihres Urururdingsbums Octavio und beäugte sie misstrauisch, als hätte sie ihre Zweifel, ob Leute, die aus diesem Schlafzimmer kamen, dieselben wie vorher waren. Lucinda betrachtete das Gemälde.
»Was ist das, was er da in der Hand hat?«, fragte sie. »So was hab ich noch nie gesehen. Ist es was zum Musikmachen?«
»Keine Ahnung.« Tyler sah sich das goldene Ding genauer an. Außer den langen, trompetenartigen Röhren bestand es aus einer Reihe überlappender scharfkantiger Kreise und Zacken,als ob der alte Octavio gerade das Innenleben einer großen Uhr ausgenommen und die Einzelteile wahllos zusammengeschraubt hätte. Da bemerkte Tyler, dass Octavio in der anderen Hand einen schwarzen Samtbeutel hielt, und begriff plötzlich, dass der zur Aufbewahrung des Geräts bestimmt war.
»Als ob das Bild genauso das Ding wie ihn darstellen sollte«, sagte er ganz leise, doch Lucinda verstand ihn und nickte. Sie hatte offenbar denselben Gedanken gehabt.
Auf halbem Weg zurück zum Haus sprang Zaza plötzlich von Tylers Schulter und flatterte in die Luft, wobei sie schrille Schreie ausstieß, die eher nach einem Vogel als nach einem Affen
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