Die Drachen Der Tinkerfarm
zu sehen als ohne Hose. Wo ihm die Haare in verschwitzten Ringellocken aus der Stirn geweht waren, erblickte sie kleine helle Kreise – die Stellen, wo seine Ziegenhörner wuchsen, begriff sie, die er allerdings abgesägt oder weggefeilt hatte. Mit seinem struppigen Bart und dem roten Widerschein des Feuers in den Augen sah er wie der Teufel persönlich aus. Lucinda hätte eseigentlich mit der Angst zu tun bekommen müssen, aber das Gesicht war immer noch das von Simos Walkwell, dem Mann, der Autos hasste und Holzspielsachen für Kinder schnitzte.
»Mach Ragnar keine Vorwürfe. Es … es ist meine Schuld«, sagte sie. »Ich war auf der Suche nach Tyler. Ich habe mich verirrt, und dann … habe ich das Feuer gesehen …«
Ragnar kauerte neben dem Mann, den Walkwell auf den Boden geworfen hatte. Er war dunkel gekleidet und hatte eine dunkle Pudelmütze auf. »Wo hast du ihn gefunden?«, fragte Ragnar.
»Hinter dem Zaun an der Junction Road«, sagte Walkwell. »Er ist nur ein paar Schritte weit gekommen. Ich habe ihn von hinten gepackt. Er konnte mich nicht sehen.«
Der alte Mann war also gerade zur Junction Road und mit einem schweren Mann auf den Schultern wieder zurück gerannt, und das alles in höchstens einer Viertelstunde, machte Lucinda sich klar. Er musste wirklich übermenschlich stark sein – na ja, vielleicht kein Wunder, wenn er gar kein Mensch war.
»Ist … er tot?«, fragte Lucinda.
Ragnar schüttelte den Kopf. »Simos hat ihn nur betäubt. Wir wollen diesen Leuten klarmachen, dass sie hier nichts verloren haben, und dafür müssen sie ihren Auftraggebern Meldung machen.« Er hatte die Taschen des Mannes fertig durchsucht. »Natürlich leer. Aber ich wette, dass in seinem Wagen ein Telefon mit der Nummer von diesem Stillman liegt, diesem gierigen Kerl.« Ragnar seufzte tief. »Er versucht mit allen Mitteln, etwas herauszubekommen, oder vielleicht will er uns auch nur daran erinnern, dass er da ist. Das ist ein Problem, das sich nicht von selbst lösen wird.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Lucinda. »Wer ist Stillman?«
»Ein böser Mann. Und ein reicher Mann. Er ist ein Abkömmling der Familie Tinker, und er will diese Farm haben. Alles weitere wird Gideon dir selbst sagen müssen.«
»Wenn ich das Telefon finde, bringe ich es mit. Ich kenne mich mit diesen Dingen nicht aus, und ich will es auch nicht«, sagte Walkwell. Er musterte Lucinda streng, als könnte sie sich versucht fühlen, ihm ein Mobiltelefon anzudrehen. »Mir juckt schon der Kopf, wenn ich nur höre, wie jemand in so ein Ding hineinspricht.«
»Sie funktionieren hier ohnehin nicht richtig«, sagte Ragnar. Er hatte den bewusstlosen Mann bis auf Unterhose, Strümpfe und Unterhemd ausgezogen. Er sah nicht mehr sehr gefährlich aus. »Fertig, Simos.«
Walkwell bückte sich, hob den Mann auf wie einen Einkaufsbeutel und warf ihn sich über die Schulter. »Ich bringe ihn zurück. Er und sein Herr werden Anlass zum Nachdenken haben, wenn er wieder zu sich kommt.«
Im nächsten Moment war er so flink davongesprungen, dass Lucinda den Übergang zwischen Verschwinden und Verschwundensein gar nicht mitbekommen hatte. Sein Geruch hing jedoch noch in der Luft, nicht unangenehm, obwohl ihr davon die Nasenflügel zuckten.
»Was dich betrifft, so bringen wir dich zum Haus zurück«, sagte Ragnar. »Du hast für eine Nacht genug Fragen beantwortet bekommen, nicht wahr?«
Lucinda nickte. Tyler war bestimmt in Sicherheit. Wie sollte ihm etwas zustoßen, wenn ein Fabelwesen wie Simos Walkwell die Farm bewachte?
20
LETZTE
T yler hatte aufgehört zu fallen. Jetzt schien er in der Dunkelheit zu schweben, aber schweben gab keinen Begriff davon, wie unwohl er sich fühlte. Ihm war so schwindlig, dass sich ihm unter normalen Umständen der Magen umgedreht hätte … aber er konnte seinen Magen nicht finden . Er schien überhaupt keinen Körper zu haben. Es war, als wäre er nur ein Gehirn, das in einer dunklen Flüssigkeit schwamm, augenlos, stimmlos, hilflos.
Trotzdem war ihm kalt, unmenschlich kalt. Kein Körper und doch frieren – gemeiner ging’s nicht.
Tyler versuchte sich zu bewegen und entdeckte, dass er seinen Körper doch ein wenig fühlen konnte, nur schien er unfassbar fern zu sein, so als wäre sein Kopf ein Drachen, undsein restlicher Körper hielt eine Meile tiefer die Schnur. Er fragte sich, ob ihm etwas richtig Schlimmes zugestoßen war. War er bewusstlos? Verkrüppelt? Schlimmer noch, war er tot?
Eine zornige
Weitere Kostenlose Bücher