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Die Drachen Der Tinkerfarm

Die Drachen Der Tinkerfarm

Titel: Die Drachen Der Tinkerfarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Beale , Tad Williams
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ruckartig stehen, zitternd, als hätte ein eisiger Wind sie angefahren. Es war wie eine Stimme in ihrem Kopf, eine Stimme ohne Worte, die dennoch ganz deutlich von furchtbarem Kummer und genauso furchtbarem, tief vergrabenem Zorn sprach. Lucinda meinte, gar nicht so viel Traurigkeit fassen zu können, platzen zu müssen wie ein zu stark aufgeblasener Luftballon.
    Dann war das Gefühl fort, nur der Eindruck einer großen Niedergeschlagenheit wirkte noch eine Weile nach. Lucindas Wangen waren kalt. Sie fuhr mit den Fingern darüber und entdeckte, dass sie tränennass waren.
    Was passierte mit ihr? War das der Geist aus dem Spiegel?Was sonst hätte sie dermaßen mit Leid erfüllen können? Spukte es denn überall auf der Farm?
    Während sie sich hatte ablenken lassen, war die erstaunlich schnell davoneilende dunkle Gestalt ihren Blicken beinahe entschwunden. Lucinda sprang aus der schützenden Dunkelheit der ersten Nebengebäude des Hauses in das trübe Mondlicht, ein Schatten, der einen anderen verfolgte.

    Der andere Schatten hatte sich längst aus dem Staub gemacht, und Lucinda stolperte durch einen dunklen Wald am anderen Ende des Weidelandes, unmittelbar am Fuß der Hügel, die die Grundstücksgrenze markierten. Das Mondlicht schien eher schwächer geworden zu sein, und sie hatte sich so viele Male nach irgendwelchen Baumschatten umgedreht, dass sie nicht einmal mehr wusste, in welcher Richtung das Haus lag. Allen guten Vorsätzen zum Trotz weinte sie vor Verzweiflung und Angst ein bisschen, und sie wollte sich gerade hinsetzen und warten, bis am Morgen jemand käme und sie fände, als sie ein kleines Stück hügelan ein Licht erblickte.
    War das Tyler mit seiner Taschenlampe? Nein, es war gar keine Taschenlampe, sondern der flackernde Schein eines Feuers. Es mussten die Hirten sein, Kiwa, Jeg und Hoka, die gern bis spät in die Nacht an ihrem Lagerfeuer saßen und traurige, kehlige Lieder sangen, die wie gezupfte Saiten vibrierten. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie selbst im Dunkeln so weit vom Weg abgekommen war. Außerdem klang die einzelne heisere Stimme, die sie jetzt singen hörte, nicht im geringsten nach den drei Amigos.
    Mit widerstreitenden Gefühlen in der Brust schlich Lucinda näher. Auf einer Lichtung direkt voraus sah sie das Feuer im sanften Abendwind tanzen und Funken sprühen, doch derSänger war nicht zu entdecken. Sie verharrte am Rand der Lichtung, beunruhigt von der Fremdartigkeit des rauhen und doch klagenden Gesangs, der sich anhörte, als ob das Geheul eines einsamen Tieres zu einer langsamen, rhythmischen Weise vertont worden wäre.
    Etwas lag vor ihren Füßen auf dem Boden. Sie bückte sich und hob es auf. Ein Stiefel, klein wie ein Kinderschuh, noch warm von dem Fuß, der darin gesteckt hatte. Wie im Traum langte sie mit der Hand hinein, zog sie aber gleich wieder erschrocken heraus. Er war mit Papierknäueln ausgestopft, die bei der Berührung raschelten.
    Etwas quetschte ihr mit der Kraft einer Riesenschlange die Arme an die Seiten. Eine große Hand legte sich auf ihren Mund.
    Lucinda schrie, doch es kam nur ein ersticktes Röcheln heraus. Sie wurde hochgehoben und trat wie wild um sich. Ihre Fersen trafen die Beine des Entführers, richteten aber so wenig aus, als träten sie gegen den Stamm einer Eiche.
    »Psssst«, zischte ihr eine heiß atmende Stimme ins Ohr, und sie wand sich vor Grauen. »Er wird dich hören. Er hat ohnehin so wenig Freiheiten – nimm ihm die nicht auch noch weg.«
    Da erkannte sie die Stimme. Sie fürchtete sich immer noch, aber wenigstens wusste sie jetzt, wer sie festhielt.
    »Ich stelle dich jetzt hin«, flüsterte Ragnar. »Lauf nicht weg. Er würde erschrecken, und das könnte gefährlich werden. Sag auch nichts. Er wird bald verschwinden, um nach den Zäunen zu sehen.«
    Sie hatte keine Ahnung, wer »er« war, aber sie nickte. Der Hüne stellte sie ab, als wäre sie leicht wie eine Kaffeetasse. Verwirrt von den erschreckenden Wendungen des Abends wäre sie trotz ihres Versprechens beinahe doch weggelaufen, aber irgendetwas hielt sie zurück.
    Niemand tut mir etwas. Ragnar würde sich nicht an mir vergreifen. Am stärksten jedoch war zu ihrer Verwunderung der Wunsch, Bescheid zu wissen. Ausnahmsweise wollte sie nichts mehr, als Antworten auf die Fragen erhalten, die ihr durch den Kopf schwirrten wie aufgescheuchte Bienen.
    Im nächsten Moment kam etwas den Hang hinuntergesprungen. Das Feuer gab gerade genug Licht, dass man die

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