Die Drachen Der Tinkerfarm
eine Weile, dann zog er ihn in eine sitzende Haltung, stützte ihn mit der Brust ab und löste die Lederriemen seiner primitiven Jacke. Als er sie aufgeknüpft hatte, drückte er Tyler an seinen Körper wie ein Kind und schloss dann das dicke Ledergewand um sie beide.
Nach einiger Zeit wurde Tyler immerhin so warm, dass er den Schmerz der zurückkehrenden Empfindung im Rücken spüren konnte. Er klemmte sich die Hände unter die Achseln, um sie zu wärmen. Auch sie begannen bald zu kribbeln und zu schmerzen. Es dauerte noch etwas länger, bis Tyler an den Formen der nackten Haut, die er an seinem Rücken fühlte, erkannte, dass es gar kein Höhlenmann war, der ihn mit seiner lebensrettenden Umarmung wärmte und der eben noch einen Speer mit einer Steinspitze in den größten Bären gerammt hatte, den Tyler sich vorstellen konnte. Es war eine Höhlen frau. Ein Mädchen, genauer gesagt.
»Hast du einen Namen?«, fragte Tyler sie. Jetzt, da er nicht mehr so sicher war, dass er sterben würde, konnte er die Verrücktheit des ganzen Abenteuers kaum fassen. Wie war er hierher gelangt? Wo war er überhaupt? Irgendwo auf der heutigen Erde oder in einer früheren Zeit, wie im Film? Undwarum konnte er dieses Mädchen verstehen? Er hörte die rauhen, unbekannten Worte, die sie sprach, und gleichzeitig ging ihm im Kopf die Bedeutung auf.
»Er ist nicht so seltsam wie ›Tai-ler‹«, antwortete sie. »Sie haben mich Letzte genannt, weil ich die Jüngste war, aber jetzt sind sie alle tot. Ich nehme an, ich bin jetzt wirklich die Letzte.« Nach der Tragik ihrer Mitteilung hätte er wenigstens eine Träne erwartet, doch obwohl die Krallenspuren an Stirn und Wangen immer noch ein wenig bluteten, hatte sie das harte, verschlossene Gesicht, das Tyler zu Hause bei manchen Kriegsveteranen gesehen hatte, die vor dem Krankenhaus auf den Bus warteten, und das von einem schwierigen und ihn erschreckenden Leben sprach.
Zu Hause. Wie kam er wieder nach Hause?
»Du hast mich gerettet«, sagte Letzte. »Der Große hätte mich getötet, weil ich in seine Höhle eingedrungen war. Ich wollte nur irgendwohin, um mich aufzuwärmen, und habe nicht achtgegeben. Ich hätte seinen frischen Gestank riechen müssen.«
»Ich muss gehen«, sagte Tyler und stellte sich mühsam auf die Beine. »Meine Familie … meine Schwester.« Er holte tief Luft. »Ich muss zurück.« Aber wie kam er zurück? Er war hier, schien es, praktisch vom Himmel gefallen.
»Du wirst sterben, wenn du nach draußen gehst«, wandte sie ein. »Es wird bald dunkel, und der Bär ist nicht tot. Wenn er überlebt, wird er zurückkommen. Einer wie er hat meine ganze Familie geholt. Ich weiß nicht, womit wir den Großen so erzürnt haben.« Ihre verfilzten Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie Tylers dünne Kleidung betrachtete, seine durchnässten Sportschuhe. »Er ist auch nicht der einzige Jäger hier. Und deine Felle werden dich draußen nicht warmhalten, glaube ich.«
»Aber ich muss gehen.« Er bezweifelte nicht, was sie sagte, aber mit der wiedergekehrten Empfindung in Händen und Füßen war auch eine ungeheuer starke, quälende Einsamkeit gekommen. Ob er nun tatsächlich irgendwie in die Eiszeit gereist oder ob noch etwas Merkwürdigeres mit ihm passiert war, die Vorstellung, hier nicht mehr wegzukönnen, war unerträglich. Wenn er die ganze Nacht wartete, war er vielleicht nicht mehr in der Lage, die Stelle wiederzufinden, wo er angekommen war. »Ich muss gehen«, wiederholte er.
Sie seufzte. Der Laut erinnerte ihn noch mehr an seine Schwester. »Dann werde ich mit dir gehen, andernfalls bist du noch vor dem Morgengrauen tot.«
»Das musst du nicht tun.«
»Mein Leben gehört jetzt dir.« Sie sagte das so schlicht, als spräche sie über das Wetter. »Ohne dich hätte mich der Große geholt.«
Er hatte recht gehabt, fand Tyler, als er mit dem Mädchen an seiner Seite in den kalten Wind hinaustaumelte. Er begann zwar sofort heftig zu zittern, aber er konnte noch seine tiefen Fußspuren am Berg erkennen, Spuren, die am Morgen verschwunden gewesen wären. Auch wenn ihm das zunächst nicht weiterhalf und die Fußspuren einfach auf halbem Weg den Hang hinauf abbrachen, war es immerhin etwas.
Er blieb stehen, wo die Fußspuren anfingen. Es gab hier nichts als kalte Luft und Schnee, aber er schloss fest die Augen und bemühte sich, den Wind zu ignorieren, seinen eigenen zitternden Körper, den Gedanken, dass der verwundete, wütende Bär jeden Augenblick zurückkommen
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