Die Drachenjägerin 3 - Winter, M: Drachenjägerin 3
mehr ging. Rinek fluchte, als er über die erhöhte Küchenschwelle stolperte. Yaro sprang ihm entgegen, um ihn aufzufangen und stieß dabei seinen gerade erst gefüllten Becher um. Polternd stürzten sie beide zu Boden.
» Jungs, bringt euch nicht um«, empfahl Agga.
Yaro rappelte sich mit rotem Gesicht auf, doch Rinek blieb sitzen, wo er war, auf den rauen Bodenbrettern.
» Ich hoffe, es stört niemanden, wenn ich dieses Ding hier mal kurz abnehme.«
Wenn Agga nicht so entsetzt gestarrt hätte, wäre es ihm nicht einmal peinlich gewesen. In den vergangenen Jahren hatte er auf die harte Tour lernen müssen, dass seine Behinderung ihm weder Mitleid noch sonst irgendwelche Vergünstigungen einbrachte. Im Gefängnis machte er den anderen Häftlingen immer rasch klar, dass mit ihm nicht zu spaßen war und seine Krücke eine gefährliche Waffe sein konnte. Wenn die Wärter ihm den Stock abnahmen, blieben ihm noch seine Hände. Dass er nun schon ein ganzes Jahr in Freiheit verbracht hatte, durfte ihn nicht dazu bringen, sich selbst mit den Augen anderer Menschen zu sehen – sonst würde er irgendwann einen Krüppel erblicken und erschrecken.
Er schnallte die Lederbänder ab und lehnte sich erleichtert zurück.
» Branntwein?«, fragte Lireck ungerührt.
» Für die Schmerzen«, fügte Agga hinzu.
» Wie, für die Schmerzen?«, fragte Rinek. » Für mehr ist es nicht gut? Wenn ihr mir das Zeug einverleiben wollt, weil es euch nicht schmeckt, könnt ihr es behalten.«
Aber er griff nach dem Becher und ließ es sich nicht nehmen, ihre Hand sanft zu berühren. Kein Mädchen, das so hübsch war wie sie, sollte in ihm einen hilfsbedürftigen Kranken sehen, oder er konnte sich gleich zu dem König in den Sarg legen.
» Hat jemand Chamija im Trauerzug entdeckt?«, fragte Borlin.
» Diese böse Hexe wird Augen machen, wenn wir mit ihr fertig sind«, prahlte Yaro. » Hätte sie sich mal lieber nicht mit Nival angelegt.«
Mora seufzte laut, woraufhin alle verstummten und sie anstarrten.
» Frau Mora?«, fragte Agga vorsichtig. » Was ist mit Euch?«
Die Zauberin stand verloren mitten im Raum, wie eine Fremde, die nicht zu dieser fröhlichen Gruppe dazugehörte.
» Was, wenn Nival mich getäuscht hat, damit ich ihn gehen lasse? Wenn er niemals vorhatte, den König nur zum Schein zu töten – wenn Pivellius, wie er da im Sarg liegt, wirklich tot ist?«
» Oh, aber nein«, widersprach Lireck. » Das würde Nival nicht tun. Kennt Ihr ihn so schlecht?«
» Nicht der Nival, der mir wie ein eigener Sohn ist«, stimmte Mora zu, das Gesicht grau vor Angst und Sorge. » Aber der Nival, der unter Chamijas Bann steht – was weiß ich schon über ihn? Er hat getan, als wäre er wieder Herr seiner selbst, als wir ihn in die Enge getrieben haben, doch wie kann ich jemandem vertrauen, der verzaubert ist? Ich habe keine Ahnung, zu welcher Hinterlist und Heimtücke er fähig ist. Was, wenn wir uns lachend von einem Sarg abgewendet haben, in dem sich ein echter Toter befand?«
» Nival wurde als Mörder verhaftet. Das sollte doch so sein«, wandte Yaro ein.
» Vielleicht ist er wirklich ein Mörder«, sagte Mora leise. » Ach, mein armer Junge! Was, wenn es nie seine Absicht war, den Schlafzauber zu benutzen? Ich fürchte mich, wie ich mich noch nie gefürchtet habe. Die Soldaten haben den Sarg an uns vorbeigetragen, und mir war schlecht vor Angst und Entsetzen. Bin ich schuld am Tod meines Königs? Habe ich den Attentäter ins Schloss gehen lassen, ohne ihn zurückzuhalten?«
» Nival ist stark und gewitzt.« Ausgerechnet Yaro, der ihn nur kurze Zeit gekannt hatte, setzte sich für Moras Neffen ein. » Es war sein Plan, und er wird sich daran halten. Fürchtet Euch nicht. Wir müssen bloß noch eine kurze Zeit warten, die wir dafür nutzen sollten, alles für das Eintreffen des Königs vorzubereiten. Wenn wir ihn aus der Stadt schaffen wollen, brauchen wir einen Karren und Kleidung, auch ein Barbier wäre hilfreich, um Pivellius’ Aussehen zu ändern.«
» Ich bin der beste Barbier von ganz Schenn«, behauptete Borlin. » Das hätte ich euch längst bewiesen, wenn ihr mich nur lassen würdet.«
» Du haarloser Tölpel?«, höhnte Lireck. » Du hast doch schon seit Jahrzehnten vergessen, was Haare überhaupt sind! Wann hast du die letzten gesichtet, vor einem halben Jahrhundert? Dich lasse ich nicht mal meinen Bart stutzen.«
Nach und nach verließen sie die Küche, und am Schluss blieben nur noch Agga und Rinek übrig. Das
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