Die Drachenkämpferin 01 - Im Land des Windes
Dann stieg sie hinauf zum höchsten Punkt der Stadt und genoss von der breiten Terrasse aus den Ausblick über die Steppenlandschaft: Grenzenlos glitt der Blick über die Ebene, aus der sich nur die allgegenwärtige Feste des Tyrannen mit dem mächtigen Turm und die verschleierten Umrisse anderer Städte im Dunst abhoben.
Mit diesem Bild vor Augen kam Nihal innerlich zur Ruhe, und auch ihr kriegerisches Wesen schwieg für eine Weile. Es war eigenartig: Wenn in der untergehenden Sonne Himmel und Steppe zu einem einzigen großen Feuer aufloderten, schaffte sie es, an nichts zu denken. Dann hörte sie nur ein Murmeln aus den Tiefen ihrer Seele, wie ein Flüstern in einer Sprache, die sie nicht verstand.
Seit Nihal sich Livons Dolch erkämpft hatte, schlug ihr noch größere Bewunderung von Seiten der anderen entgegen, und wenn sie mit der Waffe gut sichtbar an ihrem Gürtel durch die Straßen lief, kam sie sich so stark wie ein Ritter vor. Schon manches Mal hatte sie ihren Dolch in irgendeiner Rauferei als Siegprämie ausgesetzt, und sie konnte sich rühmen, nie einen Kampf verloren zu haben.
An einem Herbstmorgen ihres dreizehnten Lebensjahres hörte sie Barod eben aus diesem Grund von der Straße her nach ihr rufen: Ein Junge, den man noch nie in ihrem Kreis gesehen hatte, forderte sie zu einem Zweikampf um den Dolch heraus. Nihal ließ sich nicht lange bitten und lief übermütig hinauf zur Terrasse, jenem Ort, wo alle ihre Duelle stattfanden.
Als sie ihren Gegner sah, hätte sie fast laut losgelacht: Er war groß und hager und mochte einige Jahre älter sein als sie, aber besonders auffällig war seine furchtbar strubbelige rote Mähne. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass die Stärke ihres Gegners nicht in seiner Körperkraft bestehen konnte. Und weniger noch in seiner Wendigkeit, angesichts der Tatsache, dass er ein unförmiges Gewand trug, eine Art Kittel, der ihm bis zu den Füßen reichte und auf der Brust mit einem geometrischen Muster bestickt war. Wie wollte er in einem solchen Aufzug kämpfen?
Die beste Waffe dieses Burschen konnte nur eine gewisse Verschlagenheit sein, die Nihal in seinen auffallend hellen blauen Augen zu erkennen glaubte. Aber das sorgte sie nicht: Feinde, die mit unerlaubten Mittel kämpften, hatte sie schon zuhauf niedergerungen.
»Hast du mich rufen lassen?«
»Ja, das habe ich.«
»Und du willst mich zum Kampf herausfordern?« »Ganz recht.«
»Gesprächig bist du ja nicht gerade. Ich habe dich noch nie hier gesehen. Woher kommst du?«
»Ich lebe in der Nähe des Bannwaldes, doch meine eigentliche Heimat ist das Land des Meeres. Und ich heiße Sennar, um gleich schon deine nächste Frage zu beantworten.« Nihal rätselte, wieso dieser Kerl so selbstsicher auftrat: Er musste doch ihren Ruf kennen, sonst hätte er sie nicht herausgefordert, konnte sie also nicht unterschätzen. »Woher weißt du von mir, und wieso forderst du mich zum Kampf?«
»Ach, man hört doch überall von diesem Teufelsweib mit den spitzen Ohren und den blauen Haaren, das wie ein Schmied zuschlägt. Sag mal, hast du ganz vergessen, dass du ein Mädchen bist?«
Nihal ballte die Fäuste: Sie wusste, dass es von Nachteil war, schon vor dem Kampf die Beherrschung zu verlieren, doch eben darauf legte es Sennar mit seinem spöttischen Gerede und seinem höhnischen Lächeln gerade an.
»Was ich tue, kann dir doch gleich sein. Und außerdem hast du mir noch nicht geantwortet. Warum forderst du mich heraus?«
»Nun, an solchen Nichtigkeiten wie Ruhm und Ehre, die durch die Köpfe jener Bübchen geistern mögen, die sich sonst mit dir schlagen, bin ich absolut nicht interessiert. Was ich will, ist dein Dolch. Weil er so wunderschön ist und von Livon geschaffen wurde, dem besten Waffenschmied der Aufgetauchten Welt. Und wenn ich, um ihn zu bekommen, eben mit dir spielen muss, so sei es mir recht.«
Obwohl es Nihal in den Fingern juckte, ging sie nicht auf die Provokationen ein. Stattdessen verständigte sie sich mit Sennar auf die Regeln des Kampfes. Sobald es losging, konnte sie ihm jede Frechheit heimzahlen.
Sie kamen überein, mit Stöcken zu fechten: Wer zuerst seine Waffe verlor oder zu Boden ging, war besiegt. Der Dolch, die Siegestrophäe, wurde feierlich dem Jüngsten aus der Bande, die sie umstand, übergeben.
»Deinen Kittel wirst du wohl noch ausziehen?«
»Nein, nein, darin kämpfe ich gern. Hoffentlich macht es dir nichts aus, von jemandem in einer solchen Aufmachung besiegt zu
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