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Die drei Hellwang-Kinder

Die drei Hellwang-Kinder

Titel: Die drei Hellwang-Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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einfach nicht hergegeben, sondern gleich zu einem Engelchen gemacht hatte. Und das Engelchen hatte die Mama bei der Hand genommen, weil natürlich auch die kleinen Engel eine Mama haben müssen, verstehst du, und war mit ihr zusammen zum lieben Gott geflogen, ganz einfach in den Himmel geflogen...Und wenn man mehr wissen wollte und weiter fragte, dann bekam man von der Kathi oder von der Oma ein Gutti oder ein Stückchen Schokolade in den Mund gesteckt, und das war fast noch das Allerschönste an der rührenden Geschichte.
    Für die achtjährige Lydia und für Brigitta mit ihren elf Jahren war der Tod ein tränenreiches, dunkles Geheimnis, aber doch mehr schaurig als erschütternd. Sie wußten natürlich, daß ihre Mutter nie mehr in das Leben und in das Haus, das sie verlassen hatte, um in die Klinik zu fahren, zurückkehren würde, aber dieses absolute >Nie mehr< überstieg ihre Vorstellungskraft. Ohne an ein Wunder zu glauben, lebten sie insgeheim doch in der Erwartung, eines Tages von der Schule heimkehrend die Tür zu öff n en und Luisa mit der Teigschüssel zwischen den Knien in der Küche bei Kathi oder im Wohnzimmer an der Nähmaschine zu finden. Die Sommerdirndl, die sie zu nähen angefangen hatte, lagen noch halbfertig im Schrank...
    In der Schule richteten die Lehrer Worte des Beileids an sie, die sie aus der Menge der anderen Kinder heraushoben. Sie bekamen fast täglich Einladungen von den Müttern ihrer Freundinnen und Klassenkameraden und wurden, was sie natürlich spürten, von allen Seiten verwöhnt und besonders nett behandelt. Das alles gab ihnen ein Gefühl der Wichtigkeit, das sie treuherzig auskosteten. Sie standen plötzlich im Mittelpunkt und entdeckten, daß sie von ihren Freunden bewundert und fast beneidet wurden, genau wie damals, als sie wegen Söhnchens Masern vierzehn Tage lang die Schule versäumen durften.
    Lydia, die von jeher eine Freude an bizarren Worten und neunmalklugen Redensarten hatte, verlangte eines Tages beim Mittagessen »noch einmal Pudding für die armen Halbwaisenkinder...«
    »Wo hast du das blödsinnige Wort aufgeschnappt?« fragte Hellwang mit gesträubten Augenbrauen.
    Es kam heraus, daß Frau Rosina Stangl, die Frau des Krämers in der Beethovenstraße — denn sie lebten im sogenannten Komponistenviertel Greiffings —, dem Lehrmädel befohlen hatte, statt der üblichen Zugabe von einem einzigen klebrigen Gutti aus der Bruchbüchse tiefer in das Bonbonglas zu langen und >den armen Halbwaisenkindern< eine ordentliche Tüte voll mitzugeben. —
    Nein, die Kinder begriffen das Geschehen nicht; selbst Britta erfaßte nicht die Endgültigkeit des Verlustes. Aber begriff Hellwang ihn denn selber? Teilte nicht auch er mit den Kindern die gleichen, törichten Erwartungen, eines Tages werde Luisa wieder bei ihm sein? Regte sich nicht in einem Winkel seines Herzens noch immer die tolle Hoffnung, obwohl er nur zu gut wußte, daß er wach war und unbarmherzige Wirklichkeit erlebte, die Ereignisse dieser letzten Wochen seien nur ein Traum, und es bedürfe nur einer starken Willensanstrengung und eines gewaltsamen Aufreißens aus langem, betäubendem Schlaf, um den Alpdruck von der Brust zu wälzen? Um sich aufzurichten, zu lauschen und in dem dunklen Zimmer Luisas ruhige Atemzüge zu hören und mit der tastenden Hand über den pulsenden Bogen ihrer zarten Kehle und über die warmen, dunkelblonden Flechten ihres Haares zu gleiten...
    Der Hagelschauer war vorübergeklirrt. Die Kinder spielten mit den kleinen Eisschussern, die der Himmel ihnen unverhofft beschert hatte. Söhnchen versuchte natürlich, ein paar Körner zu fressen, aber Britta fegte sie ihm energisch aus der Hand und befahl ihm streng, unverzüglich auszuspucken, was er schon im Munde hatte.
    »Willst vielleicht Keuchhusten oder — was weiß ich — kriegen und ins Bett müssen, du Depp?!« schimpfte sie mit Luisas Stimme und mit Kathis Wortschatz.
    Oh, Britta war ruhig und vernünftig, man konnte ihr die Geschwister und das Haus ruhig für ein paar Stunden überlassen und durfte sicher sein, alles in bester Ordnung wiederzufinden. Britta besaß von klein auf ausgesprochen mütterliche Eigenschaften. Ihre Puppen lebten ewig und waren stets sauber gekämmt und hübsch angezogen. Lydia war von ganz anderem Schlage. Sie ließ ihre Puppenkinder verkommen, vergaß sie bei Regenwetter ins Haus zu nehmen, so daß sich ihre Perücken lösten, und es gab nicht eine, die nicht irgendwo invalid, blind, nasenlos oder

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