Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
Abgrund oder das Meer. Und da steht er, der Sandmann, er ruft nach mir und mein Körper findet mit einem Ruck ins Leben zurück. Auf der rechten Seite gab es mal eine Straße, die Rue de la Cloche (was, wie du weißt, Glocke bedeutet). Die namengebende Glocke befindet sich jedoch nicht in einer Kirche noch läutet sie auf einem nahe gelegenen Friedhof, sondern bezieht sich auf ein kuppelartiges Gewölbe unter der Erde, wo unterirdische Flüsse das Grundgestein aufgelöst haben. Und um zu verhindern, dass der Boden absackte, mussten die Straße und ihre Umgebung komplett abgerissen werden. Ich bin mir sicher, dass man aus dieser Geschichte einiges lernen kann.
Wenn je ich sterbe und du lebst und Zeit lief gluckernd ab und Morgen strahlt und Mittag brennt, wie’s das schon immer gab … Emily Dickinson hat mein Gehirn infiziert (obwohl ich mich an den Rest dieses speziellen Gedichts nicht erinnern kann). Ach, Emily Dickinson, was hast du mir bloß angetan? Jetzt sitze ich hier, schreibe Tagebuch und Briefe und verkrieche mich vor der Welt. Hättest du dir das für mich gewünscht? Wem will ich denn weismachen, dass ich durch Herumsitzen und Schreiben meine Unschuld wiederfinden könnte, so als versuchte ich meine Jungfräulichkeit zurückzuerlangen? Meinen literarischen Vorbildern kann ich nicht das Wasser reichen. Vielleicht bin ich deswegen ein schlechter Mensch geworden. Vielleicht ist das der Grund, warum ich sterben muss, damit das Leben ohne mich besser wird. Ich hoffe bloß, dass es keine Ewigkeit gibt. Ein schrecklicher Gedanke, für immer weiterleben zu müssen und niemals wirklich gehen zu dürfen.
Es ist immer noch 15 Uhr 20 und ich weiß nicht, ob die angehaltene Zeit mein nahendes Schicksal aufhalten oder es widerspiegeln soll. Wusstest du, dass es in Paris eine ganze Menge stehen gebliebener Uhren gibt? Zum Beispiel die in Form eines drachentötenden Ritters im Quartier de l’Horloge – deren zwei Zifferblätter sind sich nicht einig, in welchem Moment die Zeit stehen geblieben ist. Besonders gern mag ich auch die Uhr, die hinter der Kirche von Notre-Dame de Bonne-Nouvelle im Sentier-Viertel versteckt ist. Und wenn du nach meinem Dahinscheiden den Fundus meiner Lieblingsdinge öffnest, wirst du darin jede Menge stehen gebliebener Uhren finden. Was mich an mein eigentliches Vorhaben erinnert, bevor dieser Wortschwall mich so rüde davon abgelenkt hat. Ich muss Orte finden, an denen ich etwas für dich verstecken kann. Mal sehen, was haben wir denn bisher? Stehen gebliebene Uhren. Orte aus Träumen. Hmmm … Ich habe eine Idee.
Ich muss jetzt aufhören. Ich bin gern mit meinem imaginären Du zusammen, aber ich muss mich beschäftigen, um nicht in Selbstmitleid zu versinken oder dem gruseligen Sandmann zum Opfer zu fallen, der mich mit Schlaf lockt, aber ich werde ihm nicht folgen, nein, noch nicht.
Das alles wirkte wie ein Brief an mich, der nie abgeschickt worden war. Ich fragte mich, wie viele solcher ungesendeten Nachrichten es auf der Welt wohl gab.
Ich legte mich aufs Sofa und der Sandmann suchte mich zum x-ten Mal an diesem Wochenende heim. Es war Sonntagabend. Ich hatte das Gegenteil von Tomomi Ishikawas Problem. Seit ich am Freitag von der Arbeit gekommen war, hatte ich nicht mehr als zehn Stunden in wachem Zustand verbracht.
Frühmorgendliches Grau schimmerte durch die Vorhänge. Ich hörte Regen, also ließ ich sie geschlossen. Ich aß die kalten Reste der Carbonara vom Vortag direkt aus der Pfanne und wünschte, ich hätte etwas Grapefruitsaft übrig gelassen. Die ganze Zeit spielte ich mit dem Gedanken, wieder ins Bett zu gehen, aber ich brauchte Antworten auf ein paar drängende Fragen. Wo war Tomomi Ishikawas Leiche? Hatte sie Seppuku begangen und lag nun irgendwo in ihrem eigenen Blut? Wer wusste sonst noch davon und wie konnte ich die betreffenden Leute kontaktieren? Wieder checkte ich ihre E-Mails. Sie hatte zehn neue Nachrichten von niemand Bedeutendem. Dann loggte ich mich in meinen eigenen Account ein.
Ich hatte zweiundzwanzig neue Nachrichten, darunter drei von meiner Arbeit, die ich zu ignorieren beschloss, weil heute Montag und ich zu Hause geblieben war und obendrein mein Handy ausgeschaltet hatte (ich würde später anrufen und mich krankmelden). Eine der Mails war von Tomomi Ishikawa, verschickt am Freitag um 18 Uhr 24. Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade aus der Metro gestiegen und auf dem Nachhauseweg gewesen – ein paar Minuten, bevor ich ihren Brief gefunden hatte.
Weitere Kostenlose Bücher