Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
Englisch weiter. Sie kramte eine Weile unter der Theke herum und holte schließlich ein regenschirmförmiges Paket hervor, das sie mir überreichte. »Das hier ist für Sie.«
Ich war so perplex, dass mir ein paar Sekunden lang die Worte fehlten. »Ich glaube, Sie müssen mich verwechseln.«
»Oh.« Hastig zog sie das Regenschirmpäckchen wieder zurück. »Entschuldigen Sie, ich dachte, Sie seien Ben Constable.«
»Ich bin Ben Constable.« Meine Stimme klang leidend vor Verwirrung.
»Ihre amerikanische Freundin hat gesagt, Sie würden an einem Regentag vor meinem Fenster auftauchen, und dann sollte ich Ihnen das hier geben.« Lächelnd streckte sie mir wieder den Schirm entgegen.
»Aber ich möchte keinen Schirm kaufen.« Ich wollte nicht unhöflich sein, doch es schien, als beschränkten sich meine kommunikativen Fähigkeiten nur noch auf die rudimentärsten Äußerungen.
»Er ist schon bezahlt. Er gehört Ihnen.«
»Ich verstehe nicht. Kennen wir uns von irgendwoher?«
»Nein. Sie hat mir ein Foto von Ihnen gezeigt. Darum wusste ich, wie Sie aussehen.« Sie lächelte mir höflich zu, bis ich zögernd nach dem Paket griff und das Papier aufriss.
Ein langer Stockschirm mit Holzgriff kam zum Vorschein, zusammen mit einem kleinen Briefumschlag, auf dem mein Name stand.
»Wann war sie denn hier?«, fragte ich.
»Letzte Woche. Donnerstag, glaube ich«, erwiderte die Frau.
Ich öffnete den Umschlag und zog ein Blatt Papier heraus, auf das jemand hastig in großen Druckbuchstaben eine Botschaft gekritzelt hatte:
ER WIRD DICH AUF DEM WEG ZUM PALAIS ROYAL TROCKEN HALTEN SOWIE BEI JEDEM ANDEREN REGENSPAZIERGANG, DEN DU ZU UNTERNEHMEN GEDENKST. HIER NUN EIN WEITERES RÄTSEL: WELCHE UHR ZEIGT DIE ZEIT GENAUER AN: EINE, DIE EINE MINUTE VORGEHT, ODER EINE, DIE STEHEN GEBLIEBEN IST?
Das war einfach. Die Uhr, die eine Minute vorgeht, zeigt nie die richtige Zeit an. Die stehen gebliebene Uhr dagegen genau zweimal am Tag. Ich musste mir also die Uhr in Butterflys Wohnung genauer ansehen.
Ich stieg die schmale Holztreppe hinauf, klopfte an Tomomi Ishikawas Tür, steckte, ohne abzuwarten, den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Cat war nicht bei mir, aber das war in Ordnung so. Bevor ich auch nur irgendetwas sehen konnte, erkannte ich schon an der Akustik, dass sich etwas verändert hatte.
Die stehen gebliebene Uhr hing nicht an ihrem Platz an der Wand. Auf dem Tisch lag keine Nachricht für mich. Es gab keinen Tisch mehr. Genauso wenig wie Stühle. Im Schlafzimmer stand keine Kommode, es gab keinen Spiegel mehr, die Einbauschränke waren leer, das Bett verschwunden. Es gab keine Pflanzen und an den Wänden hingen keine Bilder. Keine Bücher standen in den Regalen, es gab keine Regale. Der Kühlschrank war leer, aber wenigstens war er noch da. Das Obst war verschwunden und mit ihm die Obstschale, im Badezimmer hing kein Handtuch und die Duschwanne war trocken. Die Wohnung war vollkommen leer. Damit hatte ich nicht gerechnet.
4
T OMOMI I SHIKAWAS T OTE
»Du siehst aus wie eine richtige Dame«, sagte ich und setzte mich unaufgefordert zu einer Frau an den Tisch, die Rotwein trank und auf ein paar losen Zetteln kritzelte. Ich war mir einigermaßen sicher, dass es Tomomi Ishikawa war, aber zu hundert Prozent konnte ich es nicht wissen.
»Ach, hi«, sagte sie und beugte sich vor, um mich auf die Wangen zu küssen. »Ich bin ja auch eine Dame.« Definitiv Tomomi.
»Nee, ’ne Dame biste nich«, entgegnete ich und wir lachten beide. »Aber total aufgebrezelt und geschminkt. Ich hätte dich fast nicht erkannt.«
»Mir war nach einer Veränderung«, fertigte sie mich ab, aber damit gab ich mich nicht zufrieden.
»Dir ist doch sonst nicht danach, feine Dame zu spielen. Was ist denn los?«
»Ich habe einfach keine Lust mehr, ich zu sein«, erwiderte sie. Innerlich triumphierte ich, weil ich die Wahrheit aus ihr herausgekitzelt hatte. »Ich will mich neu erfinden.«
»Okay. Schade, ich mochte dich vorher eigentlich ganz gerne. Also, ich mag dich natürlich immer noch (obwohl ich dein neu erfundenes Ich ja noch gar nicht kenne, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es sehr nett ist). Ich meine nur, dass ich dich auch vorher schon nett fand. Ich werde die alte Tomomi vermissen.«
Sie schwieg und starrte mich bloß an und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Ich hob die Hand, um den Mann herbeizuwinken, den Tomomi Ishikawa liebevoll »Kellner« nannte, und bestellte ein Bier.
Sie zündete sich eine Zigarette
Weitere Kostenlose Bücher