Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
an.
»Ich verstehe das nicht«, sagte ich zu ihr. »Warum willst du dich denn neu erfinden?«
Sie seufzte. »Wenn ich auf mein Leben und alles, was passiert ist, zurückblicke, dann wünsche ich mir jedes Mal, ich könnte es ungeschehen machen. Ich habe nichts getan, worauf ich stolz bin. Ich will noch mal ganz von vorne anfangen und diesmal anders sein.«
Am Montag, dem 19. März 2007, wandte ich mich von Tomomi Ishikawa ab. Die leere Wohnung war ein grausamer Angriff auf meine freundschaftlichen Gefühle, kein Wachrütteln oder Schlag ins Gesicht, nein, ich wurde zu Boden gedrückt und verprügelt und gezwungen mitanzusehen, wie etwas so Einfaches und Kostbares meinen schützenden Händen entrissen wurde. Tomomi Ishikawa hatte etwas in mir zerstört und die einzige Möglichkeit, mich dafür an ihr zu rächen, war, sie zu vergessen und weiterzuleben.
Am Dienstag, dem 20. März, stand ich auf und ging zur Arbeit. Ich dachte nicht mehr an stehen gebliebene Uhren oder ungelöste Rätsel. Mein Verstand befasste sich nicht länger mit der Frage nach dem Verbleib von Tomomi Ishikawas Leiche oder der, auf welche Weise sie sich das Leben genommen hatte. Es war vorbei.
Überraschenderweise kostete mich das nicht mal viel Mühe. Tagsüber arbeitete ich, die Abende verbrachte ich mit Freunden und in den meisten Nächten stolperte ich betrunken nach Hause. Der Frühling kam und ging und bald verabschiedete sich ganz Paris in den Urlaub an der Küste. Meine Firma machte für einen Monat dicht und da saß ich nun, allein und nüchtern, und wusste nichts mit mir anzufangen.
Ich wachte morgens erfrischt auf. Ich kochte anständige Mahlzeiten und nachmittags lag ich auf dem Sofa und las, während durch das offene Fenster warme Luft hereinwehte. Hin und wieder ließ Cat sich blicken. Er lag in der Sonne und döste und bald fing auch ich an, genau wie er zu schlafen, wann immer mir danach war. Wenn ich vor irgendetwas weggelaufen sein sollte, dann hatte ich spätestens jetzt zu meinem normalen Tempo zurückgefunden, und mich beschlich der Verdacht, dass ich rundum zufrieden war.
Dann, an einem Tag im August, gab mein Computer den Geist auf. Als ich ihn einschalten wollte, war der Bildschirm blau, und egal, was ich versuchte, ich brachte ihn nicht zum Laufen. Im Grunde war es kein Weltuntergang. Ich benutzte den Computer ohnehin nicht oft und alles Wichtige war auf einer externen Festplatte gespeichert, doch jetzt, da er nicht mehr da war, vermisste ich ihn. Natürlich hätte ich ihn reparieren lassen können, aber er war alt, die Tasten hakten und die Lüftung ratterte. Ich hatte genug Geld für einen neuen. Doch da lehnte ja noch immer Tomomi Ishikawas glänzender Laptop hochkant an meinem Bücherregal und staubte langsam ein. Vielleicht war dies der richtige Moment. Vielleicht war ich jetzt bereit, die Erinnerung an Butterfly zurück in mein Leben zu lassen.
Ich klappte den Deckel auf, schaltete den Laptop ein und erstellte einen Ordner für meine Sachen, dann öffnete ich ein neues Dokument und überließ das Erinnern meinen Fingern.
»Was hättest du in deinem neuen Leben denn gern?«, fragte ich Tomomi Ishikawa.
»Geld«, sagte sie. Ich war enttäuscht, doch ich ließ mir nichts anmerken.
»Und, hast du dir schon eine bombensichere Geldscheffeltaktik überlegt?«
»Nein, nicht so richtig. Ich dachte, ich könnte damit anfangen, mich besser anzuziehen und mir die Haare und Nägel zu machen, vielleicht lässt sich damit ja ein bisschen Geld herbeischaffen.«
»Als Prostituierte, oder was?«
»Nein, aber von nichts kommt nun mal nichts, darum dachte ich, man muss vielleicht so tun, als hätte man welches, damit es zu einem kommt.«
»Aha«, erwiderte ich. »Kann schon sein. Aber es würde bestimmt nicht schaden, wenn du noch einen Plan B hättest, bei dem du einen Tick mehr Eigeninitiative zeigst.«
»Und wie soll der aussehen?«
»Äh, du könntest eine Bank ausrauben.« Sie lachte, als fände sie mich kein bisschen lustig, wollte aber nicht unhöflich sein. »So ein Banküberfall wäre außerdem super für dein neues Ich, denn solange du nicht das perfekte Verbrechen hinlegst (und wenn wir zwei für die Planung verantwortlich sind, besteht diese Gefahr wohl kaum), wird die Polizei überall nach dir fahnden, darum hättest du gar keine andere Wahl, als dein altes Leben komplett hinter dir zu lassen. Du könntest dich in deiner gewohnten Umgebung nicht mehr blicken lassen und mit keinem, den du kennst, Kontakt
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