Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
Bevor alles anders geworden war. Sie schrieb:
Ein kleines Pariser Rätsel für dich: Wie kommt man an einem Regentag von der Rue du Fauburg Montmartre zum Palais Royal, ohne nass zu werden? (Et in Arcadia ego.)
B. X O X
Irgendetwas stimmte da nicht. Ich suchte ihren Brief von Freitag und überflog ihn erneut. Und da stand es, schwarz auf weiß: Wenn dich dieser Brief erreicht, werde ich schon ein paar Stunden tot sein. Der Brief hatte mich Freitag gegen kurz nach halb sieben erreicht und die E-Mail war Freitag um 18 Uhr 24 versendet worden. Unmöglich. Tomomi Ishikawa war schon tot gewesen, als sie diese Mail verschickt hatte. Das ließ nur vier Schlüsse zu:
1. Tomomi Ishikawa war nicht tot, als sie die Nachricht verschickt hatte. Vielleicht war etwas dazwischengekommen und sie hatte sich nicht zum geplanten Zeitpunkt umbringen können. Oder die Klinge hatte wie durch ein Wunder ihre lebenswichtigen Organe verfehlt und sie erholte sich inzwischen irgendwo in einem Krankenhaus.
2. Jemand anderes hatte die E-Mail versendet und sich als Butterfly ausgegeben, entweder weil Tomomi Ishikawa ihn ausdrücklich darum gebeten hatte oder aus eigenem Antrieb.
3. Es hatte eine Verzögerung gegeben, entweder bei meinem oder ihrem E-Mail-Dienst.
4. Tomomi Ishikawa hatte mir mithilfe übernatürlicher Kräfte eine Nachricht aus dem Jenseits geschickt.
Meine Gedanken überschlugen sich. Was, wenn Tomomi Ishikawa gar nicht tot war? Warum hätte sie mich anlügen sollen? Was, wenn sie in Schwierigkeiten steckte? Vielleicht war in ihren Briefen ja ein Hinweis versteckt, den nur ich entschlüsseln konnte, und ich sollte sie retten oder zumindest Hilfe holen. Vielleicht wollte sie mich auch nur verschaukeln oder mir eins auswischen. Vielleicht hatte sie mich in Wirklichkeit nie leiden können. Ich zog die Vorhänge auf und blickte hinaus auf die stetig fallenden Regenfäden. Ich musste irgendwie mein Gehirn ausschalten. Sofortiger Schlaf wäre eine Lösung gewesen, aber so langsam hatte ich darauf keine Lust mehr.
Ich zog mir Schuhe und Mantel an, fuhr mit der Metro bis Grands Boulevards und marschierte im strömenden Regen die Rue du Faubourg Montmartre hinunter. Nach ein paar Hundert Metern fand ich auf der linken Seite den Eingang zur Passage Verdeau. Ich war schon einmal dort gewesen, zusammen mit Tomomi Ishikawa. Das graue Licht schien fahl durch das Glasdach. Es war ein verschlafener, geradezu verwaister Ort. Am anderen Ende verließ ich die Passage, überquerte im Laufschritt die Rue de la Grange Batelière und betrat die Passage Jouffroy. Gelbes Licht fiel aus den Läden, die geöffnet hatten, die Schaufenster voller Antiquitäten. Andere waren geschlossen oder standen leer. Ein paar durchnässte Touristen hatten sich vor dem Regen ins Trockene geflüchtet und starrten auf den Eingang des Wachsfigurenkabinetts. Abgesehen von mir waren sie die einzigen Menschen in Tomomi Ishikawas schmalen Arkaden. Wieder draußen überquerte ich den Boulevard und betrat schließlich die Passage des Panoramas. Die Tatsache, dass es ausgerechnet in Paris, dieser prachtvollen Stadt, ein paar dermaßen schäbige Passagen gibt, klein und verkommen, hat mich schon immer fasziniert. Der Welt des Geldes ist es also noch nicht gelungen, alles rücksichtslos mit ihrem Glanz zu überziehen.
Ich gelangte auf eine weitere Straße, doch diesmal befand sich kein Passageneingang auf der anderen Seite. Ich würde also unter freiem Himmel weitergehen müssen. Der Regen drang langsam durch meine Kleider. In dieser Richtung waren die nächsten überdachten Arkaden, die mir einfielen, die Galleries Vivienne (die glamourösesten von ganz Paris), aber bis dahin war es noch ein ganzes Stück.
Wie kommt man von der Rue du Fauburg Montmartre zum Palais Royal, ohne nass zu werden? Indem man einen Regenschirm benutzt, würde ich sagen. Was mich daran erinnerte, dass ich gerade an einem Regenschirmgeschäft vorbeigekommen war. Ich ging zurück in die düstere Passage und der Regen trommelte auf das Glasdach, als ich schließlich wieder vor dem kleinen Laden stand, der gebrauchte Schirme und einen Reparaturservice anbot. Ein Glöckchen klingelte, als ich die Tür öffnete.
Eine Frau mit wirrem braunem Haar erhob sich. »Bonjour«, sagte sie gewohnheitsmäßig und dann: »Oh, hello .« Sie schien überrascht.
»Hello«, erwiderte ich, erstaunt, woher sie wusste, dass ich Englisch sprach.
»Warten Sie einen Moment«, redete sie mit kaum merklichem Akzent auf
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