Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
und den folgenden den Empfang verloren oder war kaputtgegangen. Vielleicht war ja der Akku leer. Und wenn es jemand ausgeschaltet hatte?
Ich zog eine kleine Kiste voll verschiedenstem Plunder aus dem Regal. Nach einer Weile Wühlen fand ich einen Schlüssel an einem kurzen roten Band. Ich hatte einen Schlüssel zu Tomomi Ishikawas Wohnung, um ihre Blumen zu gießen, wenn sie mal nicht da war, oder für Notfälle.
Ich zog meine Schuhe an, schnappte mir meinen Mantel und ging nach draußen, wobei die Tür einen Tick lauter hinter mir zufiel als beabsichtigt. In der Hoffnung, Cat nicht einen imaginären Kopf kürzer gemacht zu haben, sah ich mich um, doch er stand schon am Aufzug. »Wir nehmen die Treppe«, sagte ich zu mir selbst und Cat war einverstanden, denn er fährt nicht gern Aufzug. Er fährt auch nicht gern mit der Metro, dennoch folgte er mir bis nach unten auf den Bahnsteig und dann in den Waggon, wo er es sich zwischen meinen Füßen bequem machte. Als imaginäre Katze hat man es in der Metro nicht ganz leicht, weil einen niemand sehen kann und die Leute einem oft unhöflich dicht auf den Pelz rücken, aber er war trotzdem mitgekommen und das rechnete ich ihm hoch an.
An Butterflys Haustür angekommen, kämpfte ich eine Weile mit dem Tastenfeld und versuchte, mich an den Code zu erinnern. Ich tippte alle möglichen vierstelligen Zahlenkombinationen ein, die mir durch den Kopf schwirrten, gefolgt von dem Buchstaben A, bis endlich ein Klicken ertönte. Wir gingen ins Haus und die Treppe hoch. Ich klopfte, aber niemand öffnete, darum zog ich den Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. Cat, der in solchen Situationen mutiger ist als ich, ging vor. Ich rief »Hallo?«, doch niemand antwortete. Im Wohnraum sah es aus wie immer, nur auf dem Tisch lag ein Zettel, beschwert mit einem Kugelschreiber aus Edelstahl. Ich ging direkt weiter ins Schlafzimmer. Alles wirkte normal, das Bett war gemacht. Eigentlich war es sogar auffallend ordentlich. Ich sah im Badezimmer nach und auch dort war niemand, also nahm ich den Zettel vom Tisch und las die Nachricht, während Cat sich hinsetzte und seine rechte Vorderpfote leckte.
Ben Constable,
es ist zwanzig nach drei, und wie es scheint, gibt es nichts mehr zu tun. Ich werde nicht mehr da sein, wenn du kommst; ich habe mir einen besonderen Ort ausgesucht, um es zu vollbringen, damit sich niemand die Hände schmutzig machen muss (der Tod kann eine ziemlich unschöne Angelegenheit sein). Ich habe dafür gesorgt, dass jemand kommt und sich um meine Sachen kümmert, du kannst also alles so lassen, wie es ist, nur meinen Computer nimm mit – der ist für dich. Im Kühlschrank ist noch Essen, falls du etwas möchtest. Die Joghurts sind schon abgelaufen, aber jeder weiß ja, dass Joghurt sowieso nichts anderes ist als abgelaufene Milch, stimmt’s? Es gibt auch noch Obst, falls man dich damit locken kann. (Meine Güte, wieso nerve ich dich jetzt eigentlich so mit Essen? Entschuldige – ich kann bloß die Vorstellung nicht ertragen, dass hier alles vergammelt, und da du nicht unbedingt zu den dicksten Menschen der Welt gehörst, denke ich immer, du könntest gut ein bisschen mehr Hüftspeck vertragen. (Speck ist keiner dabei.))
Ich hoffe, es geht dir gut, und das alles tut mir wirklich leid. Ich muss jetzt aufhören, weil ich noch einen anderen Brief schreiben muss. (An dich, du Trottel.)
X O X O X Butterfly
PS: Hey, nimm doch vielleicht auch diesen Stift mit, der war immer mein Lieblingskuli.
Ich holte mir eine Banane und begann zu essen. Einen Moment lang stand ich einfach da und starrte auf die Uhr an der Wand. Seit ich Tomomi kannte, hatte sie immer zuverlässig zwanzig nach drei angezeigt, aber warum sie sie überhaupt behalten hatte, war mir ein Rätsel. Cat stand auf und streckte sich. Wo war sie wohl hingegangen, um es zu vollbringen , und wen hatte sie damit beauftragt, sich um ihre Sachen zu kümmern? Einen Anwalt? Eine Entrümpelungsfirma? Hatte sie sich ein Zimmer in einer Schweizer Selbstmordklinik mit Premium-Service gebucht ( Sterben Sie ruhig – wir kümmern uns um den Rest )? Gibt es so etwas überhaupt? Es schien mir schwer vorstellbar, dass sie so gut organisiert gewesen sein sollte. So wie ich sie kannte, wäre sie auf die Website der Klinik gegangen, hätte die klaren Linien des Gebäudekomplexes bewundert, die sie an den Architekten Albert Frey erinnert hätten, und im nächsten Moment wäre sie in einen Artikel über Desert Modernism vertieft
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