Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
einen Moment bleiben sollte, um nachzudenken, aber nicht ohne Cat, also gingen wir.
Als wir hinaus auf die Straße traten, war der Mann auf der Bank verschwunden und nur ein paar Kinder tollten herum. Cat marschierte los Richtung Belleville und drehte sich noch einmal zu mir um. Ich stelle mir gerne vor, dass er mir sagen wollte: Ruf mich einfach, wenn du irgendetwas brauchst , aber das kann ich nicht wissen. Cat ist überaus unkommunikativ. Er verschwand um die Ecke und ich ging zurück zur Metrostation und fuhr nach Hause.
Nachdem ich das Netzteil angeschlossen hatte, ließ sich der Computer problemlos hochfahren.
Auf dem Desktop waren scheinbar willkürlich ein paar Icons verstreut (was ich gar nicht leiden kann), Dateien, die sie aus Faulheit einfach hier abgelegt hatte. Ich sah ein über ein Jahr altes Kündigungsschreiben für einen Job und irgendeinen Brief aus dem Jahr 2005, der an die Präfektur adressiert war. Zwei Ordner trugen die einfallsreichen Namen Neuer Ordner und Neuer Ordner (2) , beide waren leer. Ich verschob sie in den Papierkorb. Dann klickte ich auf Dokumente und stellte mich auf Hunderte oder unzählige Ordner ein, schlecht benannt und nach keinem erkennbaren System geordnet, was sie leicht zu verlieren und schwer zu finden machte, aber ich irrte mich. Stattdessen warteten dort fünf säuberlich betitelte Ordner. Mein Gehirn , Meine Toten , Mein Paris , Mein Kram und Sachen, die ich mag . Ich sah kurz im Papierkorb nach, doch dort war nichts außer den beiden Ordnern, die ich ein paar Sekunden zuvor dorthin verschoben hatte. Butterfly hatte ihren Computer komplett leer geputzt. Was, nehme ich an, völlig normal ist.
Am neugierigsten war ich auf die Ordner Meine Toten und Mein Gehirn , aber auch auf Sachen, die ich mag . Ich klickte auf Mein Kram , um mir das Beste bis zum Schluss aufzusparen. Darin befand sich eine einzige Datei; was auch immer sonst noch hier gespeichert gewesen war, war nun gelöscht. Ich stellte mir vor, wie sie sich in allerletzter Sekunde entschlossen hatte, mir nur diese eine Datei zu hinterlassen. Ich klickte darauf und ein Video startete mitten in einem Gespräch. Die Aufnahme zeigte mich, von der Seite gefilmt, wie ich langsam dahinschlenderte.
»… eine Sache«, sagte ich, »aber die könnte dir gefallen.« Ich grinste, als wäre ich im Begriff, etwas unglaublich Witziges zu sagen. »Die Architektur der Pariser Innenstadt ist einem viktorianischen Badeort im Nordwesten von England nachempfunden.«
»Aha«, erklang Tomomi Ishikawas Stimme.
»Napoleon III. hat Baron Haussmann beauftragt, das neue Paris im Stil von Southport in Lancashire zu bauen.«
»Echt?« Man konnte den Lärm vorüberfahrender Autos und Busse hören.
»Bist du mal in Southport gewesen?«, fragte ich.
»Nö«, antwortete sie.
»Ist ein ganz nettes Küstenstädtchen, aber schwer vorstellbar, dass es das Vorbild für Paris gewesen sein soll. Aber so heißt es nun mal und das ist auch schon alles, was ich über Geschichte und Architektur weiß.«
»Aha.«
»Vielleicht hat Gustave Eiffel sich ja von Blackpool inspirieren lassen«, fuhr ich fort und drehte mich zu ihr um. »Hörst du mir überhaupt zu oder spielst du nur mit deinem Handy rum?«
»Ich spiele nicht mit meinem Handy rum«, erwiderte sie. »Ich filme dich.«
»Ich habe gerade einen Scherz gemacht«, jammerte ich.
»Den habe ich nicht kapiert«, sagte sie. »Tut mir leid.«
»Blackpool ist eine Nachbarstadt von Southport.«
»Ach.«
»Und was könnte es in Blackpool wohl geben, wovon Gustave Eiffel, also nur so als Scherz, sich vielleicht hat inspirieren lassen?«
»Äh, einen Turm?«
»Bingo!«, rief ich und wir lachten beide über mein komödiantisches Scheitern.
»Erzähl mir noch einen Witz«, bat sie. »Diesmal verstehe ich ihn auch, versprochen, und dann lache ich und du wirkst in meinem Film wie ein begnadeter Komiker.«
»Ich kenne keine Witze«, erwiderte ich. »Darf ich mal sehen?«
»Okay«, flüsterte sie, meine Hand näherte sich dem Bildschirm und dann war der Film zu Ende.
Ich öffnete den Ordner Sachen, die ich mag , gespannt, ob ich auch darin irgendetwas über mich finden würde. Ich stieß auf mehr Unterordner, als der Bildschirm auf einmal anzeigen konnte, allesamt voller Fotos. Geduldig klickte ich mich durch Schnappschüsse aus Städten, die ich nicht ganz einordnen konnte. Blitzlichtaufnahmen von Gesichtern, die ich nicht kannte. Alte Leute, junge Leute, Asiaten, hellhäutige Europäer,
Weitere Kostenlose Bücher