Die drei Leben der Tomomi Ishikawa (German Edition)
gewesen und hätte alles andere vergessen.
Cat saß mit dem Gesicht zur Tür, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass er gehen wollte. Im Schrank fand ich einen Krug, füllte ihn mit Wasser und goss ein bisschen in jeden Blumentopf in der Wohnung. Dann packte ich Butterflys glänzenden Laptop, ihre Nachricht und den Kugelschreiber in meine Tasche und ging. Die Bananenschale warf ich in den Mülleimer am Fuß der Treppe.
Tomomi Ishikawa war tot und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich schaltete mein Handy aus und ging nach Hause.
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T OMOMI I SHIKAWAS C OMPUTER
Als ich aufwachte, fühlte ich mich einen Moment lang wie neugeboren. Die Sonne war über die Gebäude auf der anderen Straßenseite gestiegen und die schmiedeeisernen Ziergitter vor den Fenstern warfen scharfe, klare Schatten auf den Stoff der Vorhänge. Ich wusste nicht, wo ich war. Die Luft war kühl, roch aber trocken, nach Heizung. Die Bettdecke war sauber und ich mochte das Gefühl von Baumwolle auf meiner Haut. Ich mochte den ganzen Raum. Ich weiß nicht, woran er mich erinnerte. Er wirkte exotisch. Von irgendwoher hörte ich Autos, nicht allzu nah, und Vögel. Es klang nach Frühling. Alles war ruhig. Alles war in Ordnung.
Es war kein Flüstern, denn es machte kein Geräusch, aber irgendetwas riet meinem Kopf lautlos, genau so zu bleiben. Nicht bewegen. Nicht denken. Gar nichts. Antworten (auf Fragen, die ich nie gestellt hatte) sickerten durch den Schleier und formten sich zu Tropfen. Sie klatschten mir ins Gesicht. Ich war in meiner Pariser Mietwohnung, das Zimmer war mein Schlafzimmer. Schhh. Es war Samstag, der 17. März 2007. Schhh, nicht weiter. Ich hatte lange geschlafen, bestimmt zehn Stunden. Nein, noch nicht, warte noch, warte. Ich sah auf mein Handy, aber es war ausgeschaltet. Das überraschte mich. Dann riss der Schleier auf und mein Leben strömte zu mir herein. Ich schloss die Augen. Ich wünschte, ich würde wieder schlafen. Tomomi Ishikawa war tot und wir würden nie wieder zusammensitzen und reden und lachen.
Ich blieb im Bett, so lange es ging, ohne etwas zu sehen oder an etwas zu denken. Sie hatte mir mehrmals erzählt, sie sei depressiv. Irgendwann stand ich auf, weil ich Hunger hatte. Manchmal hatte ich ihr zugehört oder sie in den Arm genommen. Ich machte mir Rührei und schmierte Butter auf ein paar Scheiben Brot vom Vortag. Manchmal hatte ich Witze darüber gerissen. Ich goss mir ein Glas Grapefruitsaft ein, trank es in einem Zug aus und schenkte nach. Einmal hatte ich ihr gesagt, sie solle sich zusammenreißen. Ich suchte im Badezimmerspiegel nach Antworten, aber da war nichts. Ich blickte aus dem Fenster und das Wetter war schöner, der Himmel blauer, als erlaubt sein sollte. Ich grub mir die Fingernägel in den Arm, um zu testen, ob ich den Schmerz spürte. Ich spürte ihn, aber er hatte keine Bedeutung. Ich kniff die Augen zu. Überlegte, ob ich irgendetwas zerschlagen sollte, den Spiegel zum Beispiel, doch der Gedanke, hinterher alles wieder auffegen zu müssen, hielt mich davon ab. Außerdem wollte ich nicht in eine Glasscherbe treten und mir den Fuß verletzen. Ich legte mich wieder ins Bett, zog die Decke über meinen Körper und starrte an die Decke. Am Tag zuvor noch hatte sie einen Brief unter meiner Tür hindurchgeschoben. Sie war hier gewesen, lebendig. Sie war die Straße entlanggekommen und hatte vielleicht jemandem zugelächelt, der ihr die Tür aufhielt. Sie hatte jemandem, der sie danach fragte, am Eingang zur Metrostation eine Zigarette gegeben und etwas in einem Laden gekauft.
Um zwei Uhr nachmittags zog ich mich an. Ich fand noch etwas Hummus im Kühlschrank und Kräcker im Küchenregal. Ich fing die Krümel in der Handfläche auf und schlenderte planlos ins Wohnzimmer. Dort setzte ich mich hin, zog Tomomi Ishikawas Laptop auf meinen Schoß und klappte ihn auf. Der Bildschirm war glänzender als meiner. Ich drückte auf den Startknopf. Der Monitor leuchtete für ein paar Sekunden auf und wurde gleich darauf wieder dunkel – der Akku war leer. Ich hatte das Ladekabel vergessen. Ich versuchte es mit dem meines eigenen Laptops, aber das passte nicht. Nun konnte ich entweder ein neues kaufen oder zurück in Tomomi Ishikawas Wohnung gehen und ihr Kabel holen. Mir war nicht danach, das Haus zu verlassen, aber wenn ich noch einmal zu Butterfly musste, dann besser sofort, bevor jemand kam und die Wohnung ausräumte. Denn wer wusste schon, ob das nicht bald passieren würde? Bis zu ihr war es nur
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