Die Drenai-Saga 2 - Der Schattenprinz
Ingis, meine Truppe ist sehr klein. Du verrätst niemanden. Aber denk mal darüber nach: Du bist verpflichtet, dem Khan der Wölfe zu folgen, doch er wird erst morgen gewählt.«
»Ich will nicht mit Worten spielen, Tenaka. Ich habe Sattelschädel meine Unterstützung gegen Sprechendes Messer zugesagt. Das werde ich nicht zurücknehmen.«
»Das solltest du auch nicht«, erwiderte Tenaka. »Sonst wärst du kein Mann. Aber ich bin auch gegen Sprechendes Messer, und das macht uns zu Verbündeten.«
»Nein, nein, nein! Du bist gegen beide, und das macht uns zu Feinden.«
»Ich bin ein Mann mit einem Traum, Ingis – Ulrics Traum. Diese Männer hier bei mir waren einst Doppelhaar. Jetzt gehören sie mir. Der Stämmige da hinten beim Zelt ist ein Speer. Jetzt gehört er mir. Diese vierzig Krieger stehen stellvertretend für drei Stämme. Vereint gehört uns die Welt. Ich bin niemandes Feind. Noch nicht.«
»Du hattest schon immer einen scharfen Verstand und einen guten Schwertarm. Hätte ich gewußt, daß du kommst, hätte ich vielleicht gewartet, ehe ich mich verpflichtete.«
»Du wirst morgen schon sehen. Für heute – iß und ruhe dich aus.«
»Ich kann nicht mit dir essen«, sagte Ingis und erhob sich. »Aber ich werde dich nicht töten. Nicht heute Abend.« Er ging zu seinem Pony und schwang sich in den Sattel. Seine Männer liefen zu ihren Tieren, und mit einer Handbewegung führte Ingis sie hinaus in die Nacht.
Subodai und Gitasi gingen zum Feuer, wo Tenaka Khan seelenruhig sein Abendbrot beendete.
»Warum?« fragte Subodai. »Warum haben sie uns nicht getötet?«
Tenaka grinste; dann gähnte er übertrieben. »Ich bin müde. Ich werde jetzt schlafen.«
Draußen im Tal wurde Ingis dieselbe Frage von seinem Sohn Sember gestellt.
»Ich kann es nicht erklären«, sagte Ingis. »Du würdest es nicht verstehen.«
»Dann mach, daß ich es verstehe! Er ist ein Halbblut, dem ein zusammengewürfelter Haufen von Keista-Abschaum folgt. Und er hat dich nicht einmal gebeten, ihm zu folgen.«
»Gratuliere, Sember! Die meiste Zeit entgehen dir selbst die einfachsten Dinge, aber jetzt übertriffst du dich selbst.«
»Was soll das heißen?«
»Ganz einfach. Du bist darüber gestolpert, warum ich den Mann nicht getötet habe. Er hat keine Aussicht auf Erfolg. Er muß sich einem Kriegsherrn stellen, der zwanzigtausend Krieger unter sein Banner schart. Und trotzdem hat er nicht um Hilfe gebeten. Frag dich selbst warum.«
»Weil er ein Dummkopf ist.«
»Es gibt Zeiten, Sember, da könnte ich fast glauben, daß deine Mutter heimlich einen Liebhaber hatte. Wenn ich dich ansehe, frage ich mich wirklich, ob du aus meinem Stall bist.«
19
Tenaka wartete in stiller Dunkelheit, während die Bewegungen in dem kleinen Lager nachließen. Dann hob er die Klappe seines Zeltes und beobachtete die Wächter. Sie suchten mit den Augen die Bäume rings um das Lager ab und zeigten keinerlei Interesse daran, was innerhalb des Lagers vor sich ging. Tenaka schlüpfte aus dem Zelt und hielt sich in den Schatten der knorrigen Bäume, während er lautlos in die noch tiefere Dunkelheit des Waldes schlich. Er bewegte sich vorsichtig und hatte bereits einige Kilometer zurückgelegt, als der Boden vor ihm abfiel und dann zu den fernen Bergen hin allmählich wieder anstieg. Etwa zwei Stunden vor Sonnenaufgang kam er aus dem Wald und begann, langsam bergan zu steigen. Rechts unterhalb von ihm lag das marmorverkleidete Grabmal Ulrics – und die Armeen von Sprechendes Messer und Sattelschädel.
Ein Bürgerkrieg war unvermeidlich, und Tenaka hatte gehofft, den Khan – wer immer es auch sein mochte – davon zu überzeugen, daß es gewinnträchtig wäre, die Drenai-Rebellen zu unterstützen. Gold war in der Steppe rar. Jetzt mußte es anders gehen.
Er kletterte weiter, bis er eine Klippe sah, in der sich Höhlenöffnungen wie Pockennarben abzeichneten. Er war schon einmal hier gewesen, vor vielen Jahren, als Jongir Khan einem Schamanenrat beiwohnte. Damals hatte Tenaka mit Jongirs Kindern und Enkeln vor den Höhlen gesessen, während der Khan in die Dunkelheit reiste. Es hieß, daß an diesen uralten Plätzen grauenvolle Rituale abgehalten wurden und daß niemand dort ungebeten erscheinen durfte. Die Höhlen waren, so verkündeten es die Schamanen, die Tore zur Vorhölle, wo in jedem Winkel Dämonen lauerten.
Tenaka erreichte den Eingang zur größten Höhle, wo er innehielt, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Es gibt keinen anderen Weg,
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