Die Drenai-Saga 4 - Der Bronzefürst
geh zum Offizier. Wenn er dir nicht hilft, geh zum Grafen. Bald ist Petitionstag.«
»Glaubst du, es interessiert den Grafen, was mit ein paar armen Bauern passiert?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Chareos. »Wo ist Paccus?«
Der junge Mann deutete auf die andere Seite des zerstörten Dorfes, wo ein alter Mann, in eine Decke gewickelt, auf der Erde saß. Chareos ging zu ihm hinüber.
»Guten Tag, Herr.«
Der alte Mann sah auf; seine Augen strahlten im Mondschein. »So beginnt es also«, sagte er leise. »Willkommen, Chareos. Wie kann ich dir helfen?«
»Du kennst mich? Sind wir uns schon begegnet?«
»Nein. Wie kann ich dir helfen?«
»Da drüben ist ein junger Mann, der behauptet, du hättest von dem Überfall gewußt. Er ist wütend – verständlicherweise. Woher wußtest du, was geschieht?«
»Ich sah es in einem Traum. Ich sehe viele Dinge in meinen Träumen. Ich sah dich auf der Lichtung hinter dem Hügel, wie du den niederträchtigen Logar nach dem Rauch fragst. Aber er wollte sich nicht in einen Kampf verwickeln lassen. Wer kann ihn dafür tadeln?«
»Ich. In einer Armee ist kein Platz für Feigheit.«
»Du hältst es für Feigheit, Chareos? Wir reden von einem Mann, der sechzehn Gegner im Zweikampf getötet hat. Nein, er wurde von den Sklavenhändlern bezahlt. Seit die Sklaverei in Gothir verboten wurde, hat der Kopfpreis sich vervierfacht. Unsere elf Frauen werden vielleicht jeweils fünfzehn Goldstücke einbringen. Ravenna mehr.«
»Das ist viel Geld«, gab Chareos zu.
»Die Nadir können es sich leisten. Ihre Schatzkammern quellen über vor Gold und Juwelen aus Drenan, Lentria, Vagria und Mashrapur.«
»Woher weißt du, daß Logar sich bestechen ließ?«
»Woher weiß ich, daß du vorhast, die Stadt am Petitionstag zu verlassen? Woher weiß ich, daß du nicht allein reisen wirst? Woher weiß ich, daß ein alter Freund in den Bergen auf dich wartet? Woher? Weil ich ein Seher bin. Doch heute wünschte ich, ich wäre nie mit dieser Gabe geboren worden.«
Der alte Mann wandte den Kopf ab und blickte auf die aschebedeckte Erde. Chareos stand auf. Als er zurück zu seinem Hengst ging, trat ihm eine hochgewachsene Gestalt in den Weg.
»Was willst du, Logar?« fragte der Mönch.
»Du hast mich beleidigt, jetzt wirst du dafür bezahlen!«
»Du willst dich mit mir duellieren?«
»Ich kenne dich nicht, daher gelten die Gesetze des Duells nicht für uns. Wir werden nur kämpfen.«
»Du kennst mich sehr wohl, Logar. Sieh genau hin und stell dir das Gesicht über dem grauen Gewand eines Mönchs vor.«
»Chareos? Verdammt! Willst du dich hinter den Regeln deines Ordens verstecken? Oder willst du dich mir stellen wie ein Mann?«
»Zuerst werde ich zum Grafen gehen und mit ihm dein … seltsames Verhalten von heute besprechen.« Er ging weiter; dann drehte er sich um. »Ach, übrigens … wenn du das Gold ausgibst, das du heute verdient hast, dann denke an die Toten, die hier liegen. Es sind zwei Kinder darunter. Vielleicht solltest du helfen, sie zu begraben.«
Der Hengst blieb ruhig stehen, als Chareos in den Sattel stieg. Der Reiter warf einen Blick zurück auf die schwelenden Überreste des Dorfes und ritt dann wachsam zurück in die ferne Stadt.
»Es tut mir sehr leid, daß du beschlossen hast, uns zu verlassen«, sagte Bruder Senior, erhob sich aus seinem Stuhl und beugte sich mit ausgestreckter Hand über seinen Schreibtisch. Chareos nahm die Hand und schüttelte sie.
»Auch ich bin voller Bedauern, Vater. Aber es ist Zeit.«
»Zeit, mein Sohn? Was ist Zeit anderes als der Atemzug zwischen Geburt und Tod? Ich hatte gedacht, du würdest allmählich den Sinn des Daseins verstehen und den Willen der QUELLE in allen Dingen zu sehen. Es stimmt mich sehr traurig, dich so bewaffnet zu sehen«, sagte er und deutete auf den Säbel und das Jagdmesser.
»Wo ich hinreise, werde ich die Waffen vielleicht brauchen, Vater.«
»Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, daß das Schwert keinen Schutz bietet, Chareos.«
»Ich will nicht mit dir streiten, Vater. Doch muß gesagt werden, daß die Mönche hier nur in Frieden und Sicherheit leben können, weil andere sie mit dem Schwert verteidigen. Ich will deine Ansichten nicht herabsetzen – ich wünschte, alle Menschen würden so denken. Aber das tun sie nicht. Ich kam als gebrochener Mann zu dir, und du hast mich aufgerichtet. Doch wenn alle Menschen so leben würden wie du und ich, gäbe es keine Kinder und keine Menschlichkeit. Wo wäre dann
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