Die Dunkelheit in den Bergen
halbes Dutzend Männer reichen, sagte der Baron und folgte ihm vor das Haus.
Fidel Caprez brummte zustimmend, dann ging er in den Regen hinaus, an der stehenden Kutsche vorbei, und verschwand zwischen den Häusern. Rauch ging zu Hostetter hinüber, der bei den Pferden stand. Der Baron blieb unter dem Vordach stehen und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen. Einzelne Tropfen fielen auf sein Gesicht. Die Tropfen waren feine Berührungen aus einer vergangenen Zeit. Kleine leichte Finger, die sich nach ihm ausstreckten, ihn anstupsten.
72 Er wurde vom Wasser fortgerissen. Seine Füße berührten den Grund, schlugen an Steine oder auf Sand, aber es gelang ihm, den Kopf über Wasser zu halten. Dann verfing er sich im Geäst eines Baums, der unterspült worden und in den Fluss gekippt war. Seine Hände bekamen Zweige zu fassen, und er klammerte sich an ihnen fest. Mit aller Kraft zog er sich ans Ufer, wo es ihm gelang, aus dem Wasser zu klettern.
Du wirst ganz schmutzig, ging es ihm durch den Kopf, als er auf allen Vieren durch das Unterholz kroch, der Boden war nass und schlammig, und er stand auf. Er wusste nicht, wo er sich befand. Die Kutsche mit dem Pferd war verschwunden, auch der Knecht und Onna Balugna. Er war bis auf die Haut durchnässt. Seine Schnürschuhe, die weißen Strümpfe, die gelbe Hose, das Hemd mit dem schön gebundenen Halstuch, der Rock, alles war vor Nässe schwer geworden und schmutzig vom Schlamm. Er erwartete Tadel, aber es war niemand mehr da, der ihn tadeln konnte. Er verstand nicht, was mit der Kutsche geschehen war. Wieso sie plötzlich alle im Wasser versunken waren. Als hätte der Fluss sie von hinten gepackt und verschluckt. Nun watete er durch den Matsch, suchte einen Weg durch das Ufergestrüpp und entfernte sich dabei vom tosenden Rauschen. In einigem Abstand blieb er stehen und begann zaghaft zu rufen: Onna? Felix? Es wurde Abend und dunkelte ein, der Regen fiel unaufhörlich weiter.
Die Kutsche, das Pferd, seine beiden Begleiter, alle waren vom Wasser fortgerissen worden, dachte Heinrich. Er war zehn Jahre alt, hatte lesen und schreiben gelernt, konnte sich auf Romanisch und Deutsch unterhalten, machte schöne Zeichnungen und spielte Flöte, aber darauf, was ihm nun widerfahren war, hatte ihn niemand vorbereitet. Er war weit weg von zu Hause, vom Schloss Löwenberg, von Schleuis, fort aus Graubünden, und noch weit entfernt von dem fremden Ort, an dem er hätte ankommen sollen. Er kannte den Weg nicht, es war auch keiner zu sehen. Er kannte nicht den Namen der nächsten Ortschaft, nicht den Namen des Tals, er wusste nur, dass sie vor zwei Tagen die Grenze zum Habsburgischen überschritten hatten. Die einzige Gewissheit war, dass er sich aus dem reißenden Fluss hatte retten können. Oder war es nicht so? War er vielleicht gar nicht gerettet? Die Umgebung sah unwirklich aus. Der Boden schwarz, die Pflanzen leuchtend grün. Es tropfte von den Blättern, er ging durch dichtes Unterholz, dann durch einen Wald. Die Farnwedel reichten ihm bis an die Brust, manche streiften sein Gesicht. Es regnete weiter, und das Tageslicht wurde schwächer.
Bevor es völlig dunkel geworden war, stieß er im Wald auf eine große Scheune. Er schlüpfte durch das angelehnte Tor, um endlich dem Regen zu entkommen. Im Innern war kaum etwas zu erkennen. Zwischen den Brettern der Holzwand schimmerten schwache Lichtstreifen. Wenigstens war es trocken, auch wenn es seltsam roch.
Auf einmal spürte er, dass er nicht allein war.
Etwas stand neben ihm oder vor ihm. Etwas war um ihn herum in Bewegung, konturlos, aber lebendig, wandernde Schatten, die atmeten, flüsterten und husteten. Er spürte eine tastende Hand auf seiner Schulter, fühlte Finger an seinen Kleidern zupfen. Dann wieder Flüstern, ein Zischen. Seine Augen, die sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannten schemenhaft Gestalten, große und kleine. Draußen rauschte der Regen. Es fror ihn, obwohl es Sommer war. Er fürchtete sich, wusste nicht, wo er sich befand und wer oder was um ihn herum war. Die Gestalten flüsterten. Er spürte, wie ihre Finger seinen Rock aufknöpften und auszogen. Dasselbe machten sie mit seiner Halsbinde und dem Hemd, mit seinen Schnürschuhen und sogar mit den weißen Strümpfen. Er wollte sich die Sachen nicht ausziehen lassen, auch wenn sie durchnässt waren, aber er wurde nicht danach gefragt. In Leibchen und Hosen stand er im Dunkeln. Das Flüstern und Tuscheln dauerte an, aber er wurde nun in Ruhe gelassen. Er
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