Die dunkle Armee
dürfen wir doch nicht verpassen«, sagte Ossacer.
Mirron lächelte ihn an. Er betrachtete sie genau; seine blinden Augen tasteten sie von oben bis unten ab, nahmen ein Chaos verschiedener Farben wahr. Wer daran nicht gewöhnt war, fand es beunruhigend. Mirron, Ossacer und Arducius hatten jedoch die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens fast ständig zusammen verbracht. Ossacer betrachtete ihre Energiestruktur und die Lebenslinien, wie nur er es vermochte, und versuchte, die Gefühle hinter ihren Worten zu erkennen. Mirron dagegen musste nicht in Ossacers Inneres schauen, um seine Stimmung zu erfassen. Er war unglücklich und besorgt. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben und war an seiner Haltung abzulesen. Er war ein wenig gebeugt und ließ die Schultern hängen, als müsste er eine schwere Last tragen.
»Komm schon, Ossie, du kannst mir nichts vormachen.«
Ossacer zuckte mit den Achseln. »Also, weißt du, wir waren gerade zufällig in der Nähe …«
»Jemand, der in Morasia ist, kommt nicht zufällig auf dem Weg nach Westfallen hier vorbei«, widersprach Mirron. »Trotzdem freue ich mich, dass ihr gerade heute gekommen seid. Hast du verfolgt, was mein Sohn tun kann?«
»Ich habe die Energiebahnen bemerkt«, sagte Ossacer. »Sehr beeindruckend für einen Zehnjährigen. Es freut mich, dass sein Potenzial so früh erwacht. Aber das ist ja nicht erstaunlich bei einem Nachkommen von Mirron und … na ja, du weißt schon.«
Mirron nickte und suchte Kessian. Er spielte gerade mit seinem Boot und ließ es mit dem Wind, den er erschuf, Achten fahren. Hesther Naravny, die Mutter des Aufstiegs, sah ihm über die Schulter und ermunterte ihn. Einige andere beobachteten ihn, darunter auch zwei jugendliche Aufgestiegene. Allmählich zerfiel die Versammlung in kleine Grüppchen, die redeten und tranken und Häppchen von den Serviertellern nahmen, die überall bereitstanden. Ein großer Teil des Aufstiegs war zugegen, ein Beweis für die Verehrung, die nicht nur Mirron, sondern alle drei ursprünglichen Aufgestiegenen genossen.
Kessian spürte ihren Blick auf sich ruhen, drehte sich um und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Mirron erwiderte das Lächeln, aber dahinter lauerte ein Schmerz, der niemals vergehen würde. Diese wundervollen blauen Augen, dieses blonde Lockenhaar. Er war Gorian wie aus dem Gesicht geschnitten.
»Wenigstens sind die Ähnlichkeiten damit auch erschöpft«, flüsterte Ossacer ihr ins Ohr.
Mirron war gar nicht bewusst gewesen, dass sie den Atem angehalten hatte.
»Ich werde nie verstehen, wie du das machst«, schnaufte sie.
»Es ist ganz einfach, liebe Mirron. Du musst nur den größten Teil deines Lebens blind sein. Damit bekommst du einen unverstellten Eindruck von allen Nuancen der Energie.«
Selbst wenn er einen Scherz machte, sprach Ossacer ernst und analytisch.
Mirron drehte sich zu ihm um. »Was ist denn nun eigentlich los, Ossie?«
»Was meinst du damit?« Er schlug die Augen nieder.
»Glaubst du, ich spüre nicht, dass etwas nicht stimmt? Du bist mit Ardu unangekündigt aus dem Westen zurückgekehrt. Ich weiß ja, dass es auch euer Geburtstag ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Advokatin bereit war, euch nur wegen einer Geburtstagsfeier die Rundreise abbrechen zu lassen.«
»Genieße es einfach«, riet Arducius ihr. »Es ist ein schöner Genastrotag in Estorr, die Advokatin bezahlt den Wein, und wir haben ein paar viel versprechende Anwärter mitgebracht, die wir dir und Hesther vorstellen möchten. Wir haben sie direkt unter den Augen der Kanzlerin mitgenommen, die so ein hübsches böses Gesicht schneidet, wenn sie eine Niederlage einstecken muss.«
»War sie etwa dort?«
»Sie ist immer da, wo wir sind«, erwiderte Arducius.
»Können wir nicht etwas dagegen tun?«, fragte Mirron.
Arducius schüttelte den Kopf. »Die Advokatin will das Gesetz nicht ändern. Außerdem ist nicht der Orden das Problem, sondern nur Koroyan mit ihren Lakaien. Wir müssen das Volk von unserem Glauben überzeugen, indem wir unsere Fähigkeiten beweisen und Verständnis zeigen. Wir wollen akzeptiert werden und können keinen religiösen Konflikt gebrauchen.«
Mirron nagte an der Unterlippe. Sie war sichtlich besorgt. »Eines Tages wirst du dich nicht mehr herausreden können. Was wird dann geschehen? Wir wissen, dass die Kanzlerin Gewalt anwenden würde, sobald sich die leiseste Gelegenheit bietet. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ihr eines Tages in einen weit entfernten
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