Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
neue Angriffswelle kommt!«
Aber sie weigerte sich. »Es dauert nicht lange … es muss sein … ich kann nicht ohne es gehen!«
Ich konnte mir nicht vorstellen, was es so Wichtiges sein konnte, dass man sein Leben dafür aufs Spiel setzte, aber schließlich waren wir Vampire, was konnte uns also schon passieren
?
Ein paar Minuten, wenn ihr die Sache so am Herzen lag, sollten schon drin sein.
Also sagte ich schließlich: »Gut, aber mach schnell, wir warten hier auf dich … Oder brauchst du Hilfe
?
Sollen wir mitkommen
?
«
Sie schüttelte den Kopf und war auch schon mit fliegenden Schritten die zerstörte Treppe zur Beletage hinaufgeeilt und durch die geborstene Tür in die Villa eingestiegen.
Im selben Moment begannen die Sirenen erneut zu heulen, und ohne dass wir noch Zeit hatten, in Deckung zu gehen, dröhnte über uns das Motorengeräusch eines einzelnen Bombers und zugleich das Jaulen der Flugabwehrgeschütze.
Wir sahen, wie der Flieger seine Bombenlast genau über der Villa ausklinkte, und retteten uns mit einem Sprung unter die Reste der Freitreppe, während über uns ein Hagel von Brandbomben auf das Haus niederging.
»Mutter«, schrie ich in verzweifeltem Entsetzen und wollte unter der Treppe hervorstürzen, um sie zu retten.
Aber Robert zwang mich zurück, und ich blieb von dem Flammensturm verschont, der mit einem gewaltigen Sog über uns hinwegfegte. Er drückte meinen Kopf auf den Boden, aber als ich dennoch aufschaute, blickte ich in eine Flammenhölle, und mitten darin sah ich meine Mutter auf uns zulaufen … eine lebende Fackel … Noch während sie lief, begann sie sich vor meinen Augen aufzulösen … bis sie nur noch wie das Negativ eines Röntgenbildes aussah … bleiche verwaschene Konturen auf einem rußigen Hintergrund … dann war sie verschwunden.
»Ihre Seele«, stammelte ich vollkommen fassungslos. »Wo ist ihre Seele …
?
« Hatte sie nicht erzählt, dass Großmutter Estelles Seele mit einem wunderbaren Leuchten zum Himmel aufgefahren war, als sie auf der Burg Przytulek den Flammentod fand
?
? »Wo ist ihre Seele geblieben
?
«
Ich brach in haltloses Schluchzen aus und konnte mich kaum beruhigen. Robert war ratlos und hockte darum schweigend neben mir und hielt meine Hände in den seinen.
Schließlich war die Flammenwalze, die durch die Straße gefegt war, vorbei, und wir konnten unter der Treppe hervorkriechen. In der Villa loderte an vielen Stellen das Feuer, und auf der Straße, da wo meine Mutter verglüht war, schien der Straßenbelag geschmolzen. Keine Spur von ihr war zurückgeblieben.
Ich wollte mich erschüttert abwenden, als mein Blick auf einen rußigen Gegenstand fiel, der genau an der Stelle lag, wo meine Mutter vergangen war. Ich beugte mich hinunter und griff danach. Aber mit einem Aufschrei ließ ich ihn fallen, denn er war noch glühend heiß.
»Lass doch«, meinte Robert. »Ein Steinbrocken … in der Glut geschwärzt … Schau, hier liegen überall welche. Was willst du damit
?
«
Ich zuckte die Schulter. »Sentimentalität … hier hat sie zuletzt gestanden … eine Erinnerung …«
Es gab keine logische Begründung, dennoch bückte ich mich und nahm den Brocken nun mit einem Stück Stoff meines Kleides zwischen den Fingern auf.
Robert zog mich weiter. »Lysette, komm, wir müssen weg … sonst geschieht uns das Gleiche wie deiner Mutter! Der Lärm und die Hitze, das tut dir nicht gut …«
Ich fand es lieb, wie besorgt er war, und so ließ ich mich mitziehen.Schließlich kamen wir in eine ruhigere Gegend am Wannsee, wo wir unter dem Sternenhimmel Rast machten. Die Fliegerangriffe waren offenbar für diese Nacht vorbei. Nur in der Ferne, wo Berlin zu einem riesigen Schutthaufen verbrannte, war der Himmel flackernd erleuchtet.
Ich betrachtete nun den Gegenstand, den ich noch immer umklammert hielt, etwas genauer. Er war aus dickem, rußgeschwärztem Glas. Ich nahm meinen Rocksaum, um den Ruß abzureiben. Mir stockte der Atem, als ich sah, was ich freilegte. Es war eine Art Präparat … Eingeschlossen in dem Glasblock befand sich ein menschliches Herz … und deutlich sichtbar steckte darin eine … Silberkugel!
Ich brach zitternd an Roberts Brust zusammen.
Was ich in den Händen hielt, war das Herz meines Bruders Lysander.
»Utz hat es wie eine Trophäe präparieren lassen«, sagte ich später, als wir mit dem kostbaren Schatz die Landstraße entlang in Richtung Blankensee wanderten. »Mutter wollte es mit nach Blankensee nehmen … ganz
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