Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
hatte inzwischen erfahren, dass meine Großmutter Lysette nach dem Feuersturm des Bombenhagels mit Robert nach Blankensee geflohen war. Dort brachte sie 1948 meine Mutter Hannah zur Welt, musste aber dann das Gut verlassen, weil die Russen dort eine Kommandantur einrichteten. Sie zogen nach Berlin, in eine Seitenstraße mit Blick auf die Stalinallee. Lysette arbeitete im Westen als Sängerin in einem Nachtclub, während Robert als Abgeordneter der Volkskammer immer noch versuchte, seine Ideen von einem praktizierten Sozialismus in Staat und Gesellschaft umzusetzen. Ich hoffte nun natürlich gespannt, endlich etwas über die Kindheit und Jugend meiner Mutter zu erfahren und vor allem darüber Aufschluss zu bekommen, warum sie eine geradezu schon phobische Abneigung gegen das Gut Blankensee entwickelt hatte.
Berlin, 17. Juni 1953
Es war ein regnerischer Tag, als Robert in die Wohnung stürzte. Er war sichtlich erregt und seine Stimme überschlug sich fast: »Arbeiter marschieren unten auf der Stalinallee!«
»Da marschiert öfters jemand«, sagte ich und konnte mir seine Aufregung nicht erklären.
»Sie demonstrieren!«
»Auch das tun Arbeiter dort ziemlich regelmäßig. Soll ich dir sagen, wofür sie in den letzten Wochen dort aufmarschiert sind
?
Für den Sieg des Sozialismus, gegen den revanchistischen Klassenfeind in Westdeutschland. Zum Geburtstag des Genossen Stalin! Für den sozialistischen Völkerpakt. Für die Erfüllung des Plansolls …«
»Sie demonstrieren nicht für etwas, sondern dagegen!«
»Und das ist in einem sozialistischen Staat wie dem unseren undenkbar
?
Das wolltest du doch sagen, Robert. Wolltest du auch sagen, dass das Aufruhr ist
?
« Robert schüttelte den Kopf. Ich musste lachen. »Wogegen demonstrieren sie denn, unsere Arbeiter, auf der Stalinallee
?
Verrätst du es mir, damit ich mich besser empören kann
?
!«, fragte ich zynisch.
Robert jedoch ging jeder Sinn für meinen Humor ab. Offensichtlich verwirrte ihn das, was er soeben auf den Straßen gesehen hatte, weil es so gar nicht in sein Weltbild passte.
»Es sind hauptsächlich Bauarbeiter, sie wenden sich gegen die Heraufsetzung der Arbeitsnormen. Sie sprechen von einem Übersoll und verlangen mehr Lohn für mehr Arbeit!«
»Das ist revolutionär! Umstürzlerisch! Staatszersetzend!«
Robert sah mich misstrauisch an. »Du nimmst mich nicht ernst
?
«
»Ich nehme den Aufstand nicht ernst. Ein Sturm im Wasserglas, wie jeder Aufstand in unserer demokratischen Republik. Warum sollten Arbeiter demonstrieren, wenn ihnen doch der ganze Staat gehört
?
«
»Du bist ironisch. Du weißt so gut wie ich, dass noch einiges an unserem Staatswesen verbesserungsbedürftig ist. Aber so langewir nicht nur für uns, sondern auch für unser russisches Brudervolk arbeiten müssen – die Reparationen wollen schließlich geleistet sein –, können wir eben nicht so schalten und walten, wie wir es andernfalls könnten.«
»Also demonstrieren die Arbeiter vergebens. Höhere Löhne und ein niedrigeres Plansoll sind nicht realisierbar
?
«
»Leider nein. Der Staat wirtschaftet am Rande seiner Möglichkeiten.«
Robert stand auf. »Ich gehe noch mal rüber. Ich muss sehen, was wirklich auf der Stalinallee, los ist.«
Die Unruhen hielten den ganzen Tag an und auch noch in den Abendstunden. Da traute ich mich auch hinaus.
Wir erreichten die Stalinallee, als die ersten Schüsse fielen.
Ein vielstimmiger Chor skandierte: »Kameraden, reiht euch ein – wir wollen freie Menschen sein! Arbeiter schießen nicht auf Arbeiter! Seid solidarisch!«
Ein Bauarbeiter verlas Solidaritätsadressen von Arbeitern aus Buna und Leuna. Wie es schien, war die ganze Republik in Aufruhr. Dann das grauenhafte Geräusch von Panzerketten auf Straßenpflaster. Irgendwann saßen Arbeiter auf Laternen und Fahnenmasten und die Panzer der Roten Armee, unserer befreundeten Besatzungsmacht, rollten über die Stalinallee … eine Demonstration der Stärke, als Warnung … nicht mehr! So sagte es jedenfalls Robert. Ich war mir da nicht sicher.
Junge Pioniere waren bereits aufmarschiert und hatten stramme Haltung angenommen. Die Augen fest nach vorne gerichtet stimmten sie die Becherhymne an: »Auferstanden aus Ruinen …«
Johannes R. Becher würde gewiss noch in der Nacht eine Solidaritätsadresse verfassen. An wen wohl
?
An das Volk oder die Funktionäre
?
Ich fühlte mich schlecht, wenn ich solche Massenaufmärschesah. Noch waren die Bilder Nazideutschlands nicht
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