Die Dunkle Erinnerung
nicht aus der Gegend um D.C. entfernen, hatte aber doch sehr unregelmäßige Arbeitszeiten, allein schon wegen ihrer Kontakte zu den verschiedenen Botschaften. Ab und an wurde Erin auch aus Langley angerufen, musste alles stehen und liegen lassen und dort hinfahren. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass die Firma sie ohne Vorwarnung irgendwohin schickte. All das war der Betreuung eines Kindes nicht gerade förderlich. Deshalb war Erin Marta unendlich dankbar.
Überdies war Marta eine Bezugsperson für Janie gewesen, seit Claire mit ihr nach Hause gekommen war. Erin hatte zu der Zeit mit dem Studium begonnen, und Elizabeth, ihre Mutter, war zu sehr mit Claire beschäftigt gewesen, um sich groß um das Baby zu kümmern. Also war Marta auf den Plan getreten und hatte Janie versorgt wie ihr eigenes Kind.
Marta war Elizabeths beste Freundin gewesen, schon seit sie mit Erins Vater nach Little Havana in Miami gezogen war. Als blondes, blauäugiges Mädchen aus Fort Lauderdale war Elizabeth in dem hauptsächlich von Kubanern bewohnten Stadtteil eine Außenseiterin gewesen. Marta hatte die jüngere Frau unter ihre Fittiche genommen und ihr geholfen, in einer Kultur zurechtzukommen, die weiter von Lauderdale entfernt war, als Elizabeth sich je hätte träumen lassen.
Gemeinsam hatten sie Elizabeths Schwangerschaften und Geburten durchgestanden, die Scheidung von Erins Vater und die zweite, sehr kurze Ehe mit Claires Vater. Dann war Claire verschwunden, und Elizabeth hatte sich noch stärker als zuvor auf Marta gestützt.
Marta war stets für Elizabeth und ihre Kinder da gewesen. Und nun hatte sie ihre Zuneigung auf Janie übertragen.
Erin lächelte die alte Freundin an. »Du tust ihr sehr gut.«
»Du etwa nicht?«
Erin hob die Schultern. »Nicht so sehr wie du.«
Marta kam zum Tisch und schlug den Zeichenblock auf, den Janie liegen gelassen hatte. »Siehst du denn nicht ihren Blick?« Sie zeigte auf das kleine Mädchen mit den blonden Locken. »Sie betet dich an.« Auf dem Bild hatte Janie tatsächlich nur Augen für Erin. Das hatte sie vorhin glatt übersehen. Vielleicht wollte sie das auch; vielleicht wollte sie nicht wissen, wie abhängig Janie von ihr geworden war. Denn auch Claire war einst abhängig von Erin gewesen, ihrer älteren Schwester, und das war sie teuer zu stehen gekommen.
»Kinder sind klüger, als man denkt«, fuhr Marta fort. »Janie weiß, dass du immer für sie da sein wirst.«
»Sie weiß, dass ich alles bin, was sie hat.« Allein der Gedanke ängstigte Erin. Sie hatte bei Claire versagt. Was, wenn sie auch bei Claires Kind versagte?
Marta verschränkte die Arme vor der Brust. »Und ist das so schrecklich? Du bist die Schwester ihrer Mutter. Ihr Fleisch und Blut. Du widmest ihr Zeit, und du gibst ihr Liebe. Das ist alles, was sie braucht.«
»Wie du es sagst, hört es sich so einfach an.« Obwohl die Erfahrung Erin anderes gelehrt hatte.
»Einfach? Nein. Es ist bloß die Wahrheit.«
Erin wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Seit zehn Monaten sorgte sie sich, dass sie Janie nicht genügte und dass die Kleine jemand anderen brauchte. Eine richtige Mutter. Und nun behauptete Marta, dass Erin dem Mädchen genug Zuwendung gab.
Erin erhob sich, entschlossen, das Thema ruhen zu lassen. Nicht einmal mit Marta wollte sie ihre Rolle als Ersatzmutter zu eingehend diskutieren. »Tja«, sagte sie, »dann will ich mich mal umziehen, bevor Janie runterkommt …«
In diesem Augenblick entdeckte sie die Zeitung auf der Küchentheke.
DER KLEINE CODY SANDERS SEIT ÜBER
48 STUNDEN VERMISST
POLIZEI UND FBI WOLLEN SUCHE NOCH
NICHT AUFGEBEN
Eine Woge der Übelkeit stieg in Erin auf. Genau diese Worte hatte sie gehört, vor neunzehn Jahren auf der Türschwelle, neben ihrer Mutter: »Wir geben die Suche noch nicht auf, Miss Baker.«
Aber schließlich hatten sie doch aufgeben müssen.
Und was diesen kleinen Jungen anging, diesen Cody Sanders, waren achtundvierzig Stunden viel zu lang. Inzwischen war er vermutlich tot. Und wenn nicht … Erin wollte lieber nicht darüber nachdenken.
»Warum quälst du dich so?«, fragte Marta.
Erin blickte auf, sah das Mitgefühl im Gesicht der älteren Frau und versuchte, sich ihre Sorge nicht zu deutlich anmerken zu lassen. »Soll ich etwa keine Zeitung mehr lesen, weil unerfreuliche Dinge drinstehen könnten?«
Marta schnaubte verächtlich. »Mir machst du nichts vor, Erin. Du musst endlich aufhören, dir die Schuld an Claires Schicksal zu geben.«
»Wem soll
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