Die Dunkle Erinnerung
ich denn sonst die Schuld geben?«
»Dem Verrückten, der sie gekidnappt hat.«
»Ich sollte aber auf sie aufpassen.« Erin schlang die Arme um ihre Taille. »Ich war verantwortlich für sie.«
»Du warst erst zwölf.«
»Alt genug …«
»Nein.« Marta kam um die Küchentheke herum und baute sich vor Erin auf, die Hände in die Hüften gestemmt. »Jetzt hör mir mal gut zu, Erin Elizabeth. Ich habe deine Mutter geliebt. Sie war mir näher als meine eigene Schwester. Aber ich war nie, niemals damit einverstanden, dass du auf Claire aufpassen musstest, während sie zur Arbeit ging.«
»Ihr blieb nichts anderes übrig.«
»Es gibt immer andere Möglichkeiten.« Marta warf die Hände hoch. »Aber deine Mutter hat nicht danach gesucht. Und was ich dann miterleben musste … als ihr euch gegenseitig die Schuld gegeben habt …« Sie schüttelte den Kopf. »Das hat mir in der Seele wehgetan.«
»Es hat uns allen wehgetan.« Erin spürte, wie sie sich innerlich verkrampfte. »Claire am meisten.«
Einen Moment lang schien Marta sprachlos zu sein; sie blickte Erin stumm an. Als sie endlich wieder Worte fand, sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Du musst loslassen. Es ist vorbei. Vergangen. Das Scheusal, das deine Schwester entführt hat, sitzt hinter Gittern.«
»Und was ist mit Claire?«
»Claire ist genau dort, wo sie sein muss. Darum hast du dich gekümmert. Und eines Tages wird es ihr wieder gut gehen. Doch selbst wenn nicht – du hast getan, was du konntest.«
Erin gab keine Antwort. Sie wusste, dass sie bei dieser Diskussion den Kürzeren ziehen würde. Marta sah nur das Gute in den geliebten Menschen, niemals die Fehler. Erin entschloss sich zu einer Lüge. »Du hast Recht.« Sie gab der Freundin einen Kuss auf die Wange. »Es tut mir Leid. Und ich werde versuchen, es nicht zu vergessen.«
Marta sah sie forschend an. Vielleicht ahnte sie die Wahrheit, bedrängte Erin jedoch nicht weiter. »Okay, dann mach dich mal fertig, bevor Janie auftaucht.«
Erin eilte die Treppe hinauf.
Trotz Martas tröstenden Worten wusste sie, dass es nicht stimmte. Sie, Erin, hatte Claire an jenem Sommertag vor neunzehn Jahren im Stich gelassen. Und seit diesem Tag hatte die ganze Familie dafür bezahlt.
3.
Special Agent Alec Donovan vom FBI sichtete die glänzenden 20 x 25er Fotos auf seinem Schreibtisch. Cody Sanders. Seine Mutter Ellen Sanders. Ihr derzeitiger Lebensgefährte Roy Vasce. Und das schäbige Reihenhaus hinter den Bahngleisen in Locust Point im Süden von Baltimore.
Alec hatte die ganze Akte durchgeackert. Er hatte die Fotos studiert, hatte wieder und wieder sämtliche Berichte gelesen, war die Verhöre durchgegangen. Sein Team von FBI-Leuten und Polizisten hatte jede noch so unbedeutende Information gesammelt, ohne etwas Neues zu finden.
Irgendetwas fehlte.
Alec spürte es, konnte aber nicht den Finger darauf legen und sagen: »Das ist es!«
Er ging vom Schreibtisch zur Schautafel an der Wand, auf die eine Abfolge von Bildern und Daten geheftet war. In der Mitte befand sich ein Foto von Cody Sanders; unterhalb davon verlief der Zeitstrahl, der seinen Weg am Tag seines Verschwindens markierte. Auf einer Seite befand sich die Liste von Familienangehörigen und Freunden, die vom Ermittlerteam befragt worden waren, auf der anderen Seite die Liste unbeantworteter Fragen. Im Grunde war die Schautafel eine Zusammenstellung sämtlicher Details, eine lückenlose Aufstellung der Befragungen und Berichte aus den Akten.
Aber etwas fehlte.
Alec musste es noch einmal durchgehen – und noch einmal, falls nötig.
»Bist du etwa die ganze Nacht hier gewesen?«
Verdutzt drehte Alec sich zu der Frau auf der Türschwelle um. Dann warf er einen Blick durchs Fenster, wo ein erster grauer Schimmer den neuen Tag ankündigte. Ein gutes Stück von seinem Schreibtisch entfernt, auf der anderen Seite der übergangsweise eingerichteten Einsatzzentrale, sah er andere Gesichter als gestern an den Telefonen der 24-Stunden-Hotline. Alec hatte den Schichtwechsel nicht einmal bemerkt. »Würde ich Nein sagen, würdest du mir ja doch nicht glauben.«
Cathy Hart, eine Agentin in Alecs Team, zog ihre Jacke aus und warf sie über einen Stuhl. »Du siehst ganz schön kaputt aus.«
»Danke.« Alec wandte sich wieder der Schautafel zu. »Wäre es politisch unkorrekt, wenn ich dich bitte, uns einen Kaffee zu machen?«
»Ja, schon, aber ich tu's trotzdem. Wenn du versprichst, dass du auf dein Zimmer gehst, duschst und dich dann aufs Ohr
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