Die dunkle Seite
letzte Nacht auf Erden. Ihr stillschweigendes Bündnis, noch einmal bis zum Morgen die Wirklichkeit zu blenden, würde sie eine kurze Weile schützen, wenige Stunden. Dann würde der Traum zerrieseln und den Blick auf ihren gemeinsamen Feind freigeben, und Vera würde versuchen, an ihm zu wachsen oder unterzugehen.
Huch, wie pathetisch.
Könntest du wenigstens ein bißchen versuchen, auf mich aufzupassen, wollte sie fragen.
Aber sie war schon eingeschlafen.
Sonntag, 29. August
7.11 Uhr. Gare du Nord, Paris
Das Päckchen lief ein auf Gleis neun.
Es wurde zusammen mit größeren Paketen und Kisten auf einen Wagen verladen und zur Verteilerstelle gekarrt, wo die Sendungen üblicherweise von den Adressaten abgeholt wurden. In diesem Fall sah das Arrangement die Weiterführung per Kurier vor. Das Päckchen aus Köln würde bis zur Haustür desjenigen reisen, für den es bestimmt war.
Der Mann, der die Sammelstelle unter sich hatte, also sich selber und einen Gehilfen, war mit dem Aufkommen hoffnungslos überfordert. Er war einige Kilometer von Roanne im ländlichen Südfrankreich großgeworden, wo man kein Verständnis für Eile hatte, speziell nicht am Tag des Herrn. Solange er nun schon bei der Bahn arbeitete, vermochte er einfach keine Toleranz aufzubringen gegen‐
über Eilzustellungen an Sonntagen. Entsprechend übellaunig nahm er die Sendungen in Empfang und pfefferte sie in Fächer, Säcke und auf Handkarren. Dem Päckchen erging es nicht viel besser. Es landete auf einem Stapel seinesgleichen, balancierte dort einige Sekunden und kam ins Rutschen.
Der Mann sah es fallen, schaute schnell weg und wartete, bis es unten lag. Wenn was kaputt war, nicht seine Schuld. Hätte ja bis Montag Zeit gehabt.
Endlich ließ er sich dazu herab, es aufzuheben und wieder auf den Stapel zu legen.
Er stutzte.
Da schien tatsächlich was kaputtgegangen zu sein. Eine Ecke war dunkelrotbraun verfärbt, kaum größer als ein Centimestück. Irgendwas darin war ausgelaufen.
Er betrachtete die Stelle genauer und fuhr mit dem Finger darüber.
Nein, das mußte schon während des Transports passiert sein. Die Flüssigkeit war angetrocknet. Wenn da was durchgesickert war, hatte er es jedenfalls nicht zu verantworten.
Vielleicht ist es Blut, dachte er amüsiert. Vielleicht ist eine Leiche drin. Es hätte allerdings eine sehr kleine Leiche sein müssen. Maximal von der Größe einer Ratte.
Er lachte und warf das Päckchen wieder auf den Stapel. Diesmal blieb es liegen.
8.25 Uhr. Vera
Mit dem Tageslicht war ihr Stillschweigepakt vergangen. Veras Gedanken schwebten nicht mehr, sondern hingen düster über dem Frühstückstisch.
»Ich schätze, wir haben immer noch ein Problem«, sagte Bathge nach einer Weile.
Sie nickte.
»Ja. Ich fürchte, das haben wir.«
Er bestrich ein Brot mit englischer Pastete und biß hinein. Sein Blick war ausgeruht und entspannt. Konnte es sein, daß die Geschichte mittlerweile mehr an ihr nagte als an ihm?
»Tu mir einen Gefallen«, bat sie, »und sag mir noch einmal die Wahrheit.«
Er hielt mitten im Kauen inne und starrte sie an. »Natürlich.«
»Warum habt ihr Marmann liegenlassen?«
Schweigen.
»Ihr hättet ihn mitnehmen können«, sagte sie. »Ihr hättet es sogar müssen. Die Sache mit der Panik hat irgendwo ein großes Loch, stimmtʹs?«
Längere Zeit sagte Bathge nichts. Dann lächelte er schwach und breitete ergeben die Hände aus.
»Stimmt.«
»Ah.«
»Ja, du hast recht. Ich hätte es dir ohnehin erzählt. Ich hätte es dir erzählen müssen, weil mir noch was eingefallen ist. Etwas, das du auf jeden Fall erfahren mußt!«
»Zu Lubold?«
»Zu Lubold und Marmann, ja.«
Vera legte das Messer aus der Hand und stützte das Kinn in die Hände.
»Da bin ich aber gespannt!«
Er zündete eine Zigarette an und wartete, bis seine Lungen den ersten Zug aufgenommen hatten. »Du erinnerst dich, daß ich einige Details verschwiegen habe. Ohne einen Hehl daraus zu machen. Ich bin einfach nicht davon ausgegangen, daß sie wichtig sein könnten, das war alles.«
»Ich erinnere mich. Du hast gesagt, daß du einiges für dich behalten willst.«
Er senkte den Blick. »Ich habe es darum nicht erzählt, weil es nicht besonders ruhmreich ist. Der Krieg macht seine eigenen Gesetze.«
Sie wartete einen Moment. Dann ergriff sie seine Hand und drückte sie.
»Ich bin nicht so schnell damit, jemanden zu verurteilen. Das weißt du hoffentlich.«
»Ja, ich weiß.«
»Also, was hast du
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