Die dunkle Seite
Golfkrieg wurde in Echtzeit übertragen. Der Zuschauer vor dem Fernsehschirm erlebte den Krieg im Augenblick seines Geschehens, wodurch der Bildschirm selbst zum Schlachtfeld wurde.
Im Augenblick der Direktübertragung wurde alles Gesehene wahr, die Gefahr falscher Rückschlüsse stieg ins Unermeßliche. Nie zuvor haben Bilder auf solche Weise die Situation manipuliert, deren Bilder sie nur waren. Das Fernsehen nahm den Zuschauer als Geisel und konfrontierte ihn mit einer Handlung, der er nicht zu folgen und die er nicht zu reflektieren vermochte. Die scheinbare Wahrheit des Bildes zog nicht zwingend nach sich, daß es auch die Wirklichkeit zeigte. Dem Betrachter blieb nur noch das Miterleben, nicht mehr die Möglichkeit der Verarbeitung via kritischer Distanz. Das Bild nahm die Wertung vorweg, ließ keinen Spielraum zur eigenen Meinungsbildung und Reaktion.
Wenn uns der Golfkrieg etwas gelehrt hat, dann, daß Überinformation und Echtzeitinformation die Grenzen zwischen Realität und Virtualität aufheben und wir weniger denn je zwischen wahr und unwahr unterscheiden können. Die Medien erschöpfen sich im Gegenwärtigen, das Aktuelle wirkt sofort, zwingt uns zu Haltungen und Reaktionen, ohne daß wir den Wahrheitsgehalt prüfen können.
Meldungen widersprechen einander, verwirrende Vielfalt entsteht, Verläßlichkeit schwindet.
Im Augenblick, da sich die Information für ungültig erklärt, wird auch das Handeln ungültig. Nichts mehr ist, aber alles könnte sein.
Das Resultat sind Irrtümer auf dem Schlachtfeld, Irrtümer in der öffentlichen Meinung, die Unmöglichkeit der Übernahme von Verantwortung, letzten Endes ihre Ablehnung.
So war der Golfkrieg zwar spannend wie die Live‐Übertragung einer Fußballweltmeisterschaft, aber er zeigte uns auch die Ohnmacht des einzelnen im Zeitalter der Medienüberflutung. Wir sind zu Sklaven der Bilder geworden, die wir schufen. Wir überlassen den Maschinen und Monitoren das Terrain. Sie sind einfach schneller. Der erste Tarnkrieg der Geschichte in Echtzeit ist zugleich der erste totaleTarnkrieg der Medienberichterstattung geworden. Millionen Fernsehzuschauer liefen über zu einer verfälschten Darstellung. Freund und Feind wurden gleichermaßen überlistet. Gegen die Virtualität gibt es nur Verlierer.
Vera blätterte weiter. Halm erging sich in mehreren Kapiteln über die Rolle der Medien in der Golfberichterstattung. Er legte dar, daß eine Gesellschaft, die den Blick nur noch auf Monitore gerichtet hielt, im Grunde zur Handlungsunfähigkeit verdammt war. Sie traf Entscheidungen für das wirkliche Leben auf der Basis virtuellen Inputs. Sie erlebte nicht die Welt, sondern eine Darstellung der Welt.
Es war zweifellos interessant. Dennoch fragte sie sich, wie Halms Buch sie weiterbringen sollte.
Andererseits handelte es von dem Krieg, in dem Lubold gefallen war. Oder auch nicht gefallen.
Mißtrauen Sie den Bildern.
Welchem Bild sollte sie mißtrauen? Sie besaß nur eines, das den Fall betraf. Es zeigte Marmann, Üsker und Bathge in der Wüste von Kuwait.
Ihr Blick fiel auf den immer noch ausgefahrenen Monitor. Er war ausgeschaltet. Im aktivierten Zustand würde er den Stadtplan zeigen und den roten Punkt darin.
Nein, sie besaß viele Bilder!
Sie war umgeben davon. Die Übertragungen der Spider‐Cams oder des Senders in Bathges Feuerzeug, ausschließlich Echtzeitdaten. Im Grunde sah sie nichts davon mit eigenen Augen. Ihre Wahrnehmung war die Wahrnehmung der Maschinen. Informationen erreichten sie in Lichtgeschwindigkeit, aber dennoch vorgefiltert.
Na und? Erwies sich die Technik nicht als hilfreich? Hätte sie den Burschen im Detektorenlabor auch mit konventionellen Methoden so schnell geschnappt?
Sie blätterte zurück ins Inhaltsverzeichnis und schlug das Kapitel
»Datenmenschen« auf.
Das gute alte Fernsehen weicht also dem Multimedia‐Terminal, passives Empfangen von Daten der Selektion und Steuerung. Der Schritt von der Television zur Teleaktion ist so gut wie vollbracht.
Über Meßfühler und Sensoren werden wir handlungsfähig und weltweit präsent, ohne uns de facto von der Stelle rühren zu müssen. Das Bildtelefon mutet da fast schon archaisch an. Demgegen über erleben wir uns in kybernetischen Anzügen. Jeder Quadratmillimeter unserer Haut wird sende‐ und empfangsbereit. Ob es Realität oder Virtualität ist, die wir in unserer Multimediaburg erleben, spielt am Ende keine Rolle. So oder so können wir Menschen über gewaltige Distanzen
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