Die dunkle Seite
berühren, Sex mit ihnen haben, sie schlagen und vielleicht sogar umbringen. So oder so erhalten wir keine Sicherheit über unsere Kommunikationspartner. Im Zweifel haben wir sexuellen Verkehr mit einem Mann, der eine Frau ist. Umgekehrt senden auch wir nur Daten, mit denen wir gefallen oder nicht gefallen, ganz wie es uns beliebt.
Das erinnerte an Nicole Wüllenrath und Intertown. Ob Halm wuß te, daß im Internet ganze Städte entstanden?
Aktion wird zur Teleaktion, Reaktion zurTelereaktion. Wir bewegen uns als Abbild in einem Abbild, besser gesagt, in einer potentiellen Welt von unzähligen. Potentiell, wie gesagt, und entsprechend unverbindlich.
Alles hier vollzieht sich mit Hochgeschwindigkeit. Wir haben Sex, gehen gemeinsam auf Partys und unternehmen ausgedehnte Reisen, während wir selber unerkannt und weitgehend regungslos an hermetisch abgeriegelten Orten sitzen und unsere eigenen Aktivitä‐
ten verfolgen. Wir gehen immer seltener nach draußen, wo der krasse Gegensatz herrscht, Verarmung und Verrohung. Wir reduzieren uns auf Funktions‐ und Steuerungseinheiten. Das Empfinden und Erleben übernehmen die Sensoren, die Beschreibung der Welt die Programme. Das Zauberwort heißt Distanz.
Zeit spielt in diesem Universum keine Rolle mehr. Die Zeit als Faktor des Nachdenkens, der Selbstverinnerlichung, des allmählichen Einsehens, als Schlüssel zum besseren Verständnis hat in der virtuellen Gesellschaft ausgespielt. Sind die Programme, in denen wir uns bewegen, lernfähig, werden sie sich vorerst anpassen, um dadurch unterschwellig die Souveränität des Programmierers zu untergraben und ihn in neue Voraussetzungen zu zwingen. Es ist wie beim Zauberlehrling. Die Geister, die wir riefen, sie wachsen uns über den Kopf. Wir sind nicht länger Herr der Lage.
War Nicole Wüllenrath noch Herr der Lage? Waren die Kinder und Erwachsenen, von deren Gürteln Tamagotchis baumelten, noch Herr der Lage?
War jemand, der einen Teil der Welt über einen Datentisch von IBM wahrnahm, noch Herr der Lage?
Alles, was Halm schrieb, war so einleuchtend, daß es fast schon nicht mehr interessierte. Warum hatte sie dann nie darüber nachgedacht? Weil Selbstverständlichkeiten sich dadurch auswiesen, daß kein Mensch nach ihnen lebte?
Sie las den Rest des Kapitels.
Programme, die sich evolutionieren und schneller dazulernen, als Menschen reagieren können, handeln und schaffen neue Voraussetzungen. In aller Unschuld übernimmt das Programm die Rolle des Entscheiders. Ähnliches passierte im Golfkrieg. Die intelligente Munition, die sich unvorhersehbaren Situationen anpassen konnte, degradierte ab einem gewissen Punkt Feind und Freund gleichermaßen zu Statisten. Der Roboter übernahm die Verantwortung, er konnte alles besser.
So geht die Virtualität ihren eigenen Weg, reißt uns mit und enthebt uns der Möglichkeit totaler Kontrolle. Der Krieg gerät zum Videospiel, das Schicksal der Opfer unterliegt dem Zufallsgenerator, das gewünschte Resultat erzielt, wer am besten spielt, und Schmerzensschreie werden zu bunten Symbolen digitalisiert, an deren Ende vielleicht ein Freispiel wartet. Das Fehlen des realen Schreckens, obgleich er ja irgendwo stattfinden muß, merzt jedes Empfinden für Brutalität und Grausamkeit aus. Immer sinnloser werden unsere Taten anmuten, aber sie werden nur die konsequente Antwort auf die Sinnlosigkeit einer Welt sein, in der uns die virtuelle Distanz vor jedem echten Kontakt schützen soll und wir uns nicht mehr als Menschen, sondern als Menschendaten begreifen, als Wirklichkeitsausschnitte, Zeitpunkte und Statistiken.
Vera legte das Buch zur Seite und dachte an den Folterer dort draußen, den sie nicht kannte und in dessen Seele sie heute dennoch so tief eingedrungen war.
Vediente die Gesellschaft einen Jens Lubold? In den Medien krähte kein Hahn mehr nach Üsker. Im Grunde war es gleich, ob solche Dinge passierten oder nicht. Wen interessierte es letzten Endes wirklich? Über den Moment hinaus?
Wie sollte eine Gesellschaft reagieren, die informationsblind war und sich hinter Scheinwelten verbarrikadierte? Wie grausam mußte sich die Realität gebärden, um endlich wahrgenommen zu werden?
Mißtrauen Sie den Bildern ...
Ließ Marmann es so aussehen, als sei er Lubold? Vollstreckte Lubold Marmanns Wünsche? Hatte Marmann Lubold hintergangen?
Waren Bathge, Üsker und Marmann verantwortlich für das, was Lubold passiert war? Hatten sie ihm etwas abgenommen, das er besessen hatte, um sich dann
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