Die dunkle Seite
Genuß gönnte er sich selten. Seiner Frau, die er im zweiten Jahr seines Paris‐Aufenthalts kennengelernt hatte, gönnte er ihn nie. Kurz vor der Hochzeit hatte er ihr seine Geschichte erzählt. Aber nicht, was damals in der Wüste geschehen war, als er Jens Lubold in die Augen geblickt und gewußt hatte, daß er noch lebte.
Manchmal hatte er sich für seine Gier verflucht. Lubold war rücksichtslos und grausam gewesen, ein Wahnsinniger, aber dieser Wahnsinnige mit seinem krankhaften Vollkommenheitswahn hätte wenigstens geteilt.
Und Üsker?
Üsker, der arme Trottel.
Es war so einfach gewesen, in die Wüste zu fahren und die Steine zu holen. So einfach, daß es beinahe keinen Spaß gemacht hatte.
Marmann seufzte und versuchte, seine Phantasien nicht um Nicole kreisen zu lassen. Der Gedanke, was Lubold ihr angetan haben mochte, erfüllte ihn mit beispiellosem Entsetzen. Inbrünstig hoffte er, Lubold halte sich an seine eigenen Spielregeln.
Ein Zeh.
Na gut. Man konnte leben mit neun Zehen.
Der Koffer wog schwer in seiner Hand. Auch ohne die dreißig Millionen blieb ihm immer noch genug. Seine Kinder würden das Vermögen erben.
Oh ja! Er würde Kinder haben.
Er würde Nicole mit sich nach Frankreich nehmen, und sie alle würden eine Familie sein, wie er sie sich immer ersehnt hatte.
Falls er die Begegnung mit Lubold überlebte.
Aber Marmann hatte gelernt, sich zu schützen. Die Steine waren in dem Koffer, falls alles schiefgehen sollte. Vermischt mit Notizheften, Kugelschreibern, Kosmetikartikeln und Büchern für die Durchleuchtung im Terminal. Er würde Nicole nicht opfern. Wenn es sich tatsächlich nicht vermeiden ließ, würde er die Diamanten hergeben, um Lubold seine Rache abzukaufen.
Wenn!
Aber er hatte nicht vor, es so weit kommen zu lassen. Lubold war zu weit gegangen. Marmann war entschlossen, die Steine wieder mit nach Frankreich zu nehmen. Zusammen mit Nicole.
Langsam drehte er den Kopf und ließ den Blick eine Sekunde lang auf den beiden Männern verweilen, die mit ihm nach Köln gekommen waren.
Sie zeigten keine Regung.
Profis. Gut so.
17.15 Uhr. Vera
Die Kripo hatte ihr Büro durchsucht. Es sah aus wie nach einem Vandalenangriff. Vera nahm es hin. Sie hatte nichts anderes erwartet.
Ein Beamter hielt ihren Schreibtisch okkupiert und kontrollierte die Position des BMW. Ein pickeliger Junge mit hormonschwachem Bartwuchs. Er hatte sich ununterbrochen entschuldigt, während sie ihm die einfachsten Funktionen des Tischs erklärte. Es war ihr gleich. Ihretwegen konnte er dort verrotten.
Gegen siebzehn Uhr lokalisierte das Peilprogramm den roten Punkt in München. Der Beamte begann viel und im Flüsterton zu telefonieren. Vera saß unterdessen in ihrem Vorzimmer und versuchte zu arbeiten, aber innerlich war sie dabei, die Mauer wiederaufzubauen. Zumindest versuchte sie es.
Aber die Mauer ließ sich nicht einfach wieder hochziehen, und der Mann auf der Insel in der Nacht wollte sich partout nicht in Jens Lubold verwandeln.
Seine Hände.
Wie dünn war die Grenze zwischen Zärtlichkeit und Grausamkeit.
Wie alltäglich wurde sie überschritten.
Nicht immer in Form von Schlägen. Es gab eine versteckte Gewalt, die der offenen vorausging: Eifersüchteleien, ständiges Sticheln und Vorwürfe, das Erzeugen von schlechtem Gewissen, Besitzansprü‐
che, Wortlosigkeit. Während er dich berührt, streichelt, liebkost und dich verwöhnt, versucht er schon, dir zu verkaufen, daß du bestimmte Dinge lassen und andere tun sollst. Er gibt sich verständig und kompromißbereit, weshalb du glaubst, er sei tolerant. Du lenkst ein und steckst zurück. Aber damit leitest du die Abwärtsbewegung ein, an deren Ende du immer unrecht haben wirst. Verläßt du ihn, nimmst du ihm seinen letzten jämmerlichen Rest Selbstbewußtsein.
Bleibst du, bedrohst du seinen letzten jämmerlichen Rest Selbstbewußtsein. Aus den Streicheleinheiten werden Faustschläge, aber er meint dasselbe. Ich habe das Recht. Die Kontrolle ist mein.
Lubold hatte keine Rechte angemeldet.
War es das, was ihn unterschied?
Er hatte die Kontrolle übernommen, schon. Aber weniger über ihre Person als über die Situation.
Dann war er verschwunden.
Oder war ihm die Kontrolle doch entglitten im Moment, da Vera die Initiative ergriffen und er sich auf sie eingelassen hatte? Was wäre geschehen, wenn sie ihn nicht mit zu sich nach Hause genommen hätte?
»Ich muß ins Revier.«
Sie schreckte hoch und sah das Pickelgesicht vor sich
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