Die dunklen Gassen des Himmels: Bobby Dollar 1 (German Edition)
senkrechte Fata Morgana –, das einen Ausgang anzeigte. Offiziell heißt das »Übergang«, aber wir nennen es Reißverschluss , ja, Sie haben richtig gehört: Reißverschluss! Wir erzeugen ihn, wenn wir ihn brauchen, wobei wir einfachen erdbasierten Engel nicht wissen, wie er funktioniert, wir wissen nur, dass er funktioniert.
Als der Junge und ich Sam folgten, schauten ein paar Umstehende kurz her, verloren dann aber das Interesse. Wir sind bei der Arbeit nicht leicht zu bemerken, das habe ich im Lauf der Jahre gelernt. Wir sind zwar immer noch da , wenn Sie verstehen, was ich meine – wir haben reale Körper –, aber wenn wir nicht wollen, dass man uns sieht, sieht man uns auch nicht oder erinnert sich zumindest anschließend nicht dran.
Sam und das Bürschchen verschwanden in dem flimmernden Spalt in der Luft, und ich tat es ihnen nach.
Wie immer war das Erste, was mir auffiel, die Stille im Außerhalb, ein immenses Schweigen, als ob wir urplötzlich in der größten und leisesten Bibliothek des Universums gelandet wären. Aber wir waren tatsächlich immer noch am selben Ort wie eben – auf dem Pier mit den Polizeiwagen und Bergungsfahrzeugen, deren rote und blaue Lichter sich durchs Dunkel brannten, und der Downtown-Skyline, die im Hintergrund aufragte wie ein Gebirge. Nur dass sich die Polizeischeinwerfer nicht bewegten, so wenig wie die Münder der Polizisten, der Hubschrauber über dem Intel Tower, der Taucher in der gelierten Dünung, und selbst die paar Möwen, durch die Aktivität von ihren Pfosten aufgescheucht, hingen jetzt reglos in der Luft wie an Schnüren schwebende Exponate im Naturkundemuseum. Wirklich anders war nur eins: Eine Frau mit kurzem grauem Haar und einem dunklen Regenmantel stand zwischen den versteinerten Polizisten, auch wenn die sie nicht sehen konnten.
»Das ist sie«, sagte Sam. »Magst du dem Jungen den Erstkontakt mit dem Klienten zeigen, B, während ich auf den Schutzengel warte? Dann lernt er gleich von einem Spitzenkönner.«
»Verlogener Drecksack«, sagte ich, ließ mir aber von ihm die nötigen Fakten geben und ging dann mit dem Jungen über den Pier, der von erstarrten Pfützen glänzte.
»Wir sehen ja hier genauso aus«, sagte der Junge und musterte seine Hände. »Ich meine, tun wir doch, oder? Wie unsere Erdenkörper?«
»So ziemlich.«
»Ich dachte, wir wären … engelhafter.« Er sah verlegen drein. »So wie im Himmel.«
»Das hier ist nicht der Himmel – wir sind immer noch auf der Ebene irdischer Existenz, mehr oder weniger. Wir sind nur aus der Zeit herausgetreten. Aber wir müssen hier nicht genauso aussehen, es ist nur so eine Tradition. Die von der Gegenseite bevorzugen ein eher einschüchterndes Erscheinungsbild. Wirst du gleich sehen.«
Als wir auf unsere neue Klientin zugingen, starrte sie uns mit einem Ausdruck an, den ich in solchen Situationen schon so oft gesehen hatte – Verwirrung pur.
»Silvia Martino«, sagte ich. »Gott liebt Sie.«
»Was geht hier vor?«, fragte sie. »Wer sind Sie?« Sie fuchtelte zu den reglosen Polizisten und Feuerwehrleuten hin. »Was ist mit diesen Leuten?«
»Die leben, Mrs. Martino. Aber Sie leider nicht mehr.« Im Lauf der Jahre habe ich meine Erklärungen stark verkürzt. Früher dachte ich, es ihnen langsam beizubringen, sei das Freundlichste, aber inzwischen bin ich eines Besseren belehrt worden. »Wie’s aussieht, haben Sie Ihren Wagen in die Bay gefahren. Gab’s dafür irgendeinen speziellen Grund?«
Sie war einiges über sechzig, aber beileibe keine alte Frau. Ja, sie schien der Typ, der immer älter werden konnte, ohne altzu werden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dann fiel mir wieder ein, dass sie ja nun nicht mehr älter werden würde.
»Meinen Wagen …?« Sie blickte auf die weiße Masse ihres SUVs, die an den zum Zerreißen gespannten Bergungsseilen hing wie Moby Dick, dekoriert mit Schleiern aus starrem, glasigem Wasser. »Ach, du liebe Güte. Das ist mein Wagen, oder?« Ihre Augen weiteten sich. Die Rädchen in ihrem Kopf arbeiteten. »Ich wollte wenden, und irgendwie hab ich … mich vertan.« Sie blinzelte. »Bin ich … bin ich wirklich …?«
»Ich fürchte ja.«
Da strömten die Tränen. Das ist das Schlimmste an meinem Job. Manchmal ist ein Klient so froh, seinen sterbenskranken Körper los zu sein, dass er einen regelrechten Freudentanz aufführt. Aber die, die es überraschend trifft, die plötzlich kapieren, dass es vorbei ist, Schluss, Ende, Game over … das sind die
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