Die Durchschnittsfalle (German Edition)
Individualität, Verschiedenartigkeit und Streuungsbreite unserer Umwelteinflüsse, die wir uns gerade selbst dezimieren. Leider vor allem auch mit negativen Auswirkungen auf die Nutzung unserer individuellen biologischen Leistungsvoraussetzungen.
Sie haben natürlich schon erkannt, dass es mir um das Engagement geht, mit dem wir darangehen, unsere individuellen Talente zu finden und es ihnen zu ermöglichen, sie optimal umzusetzen. Das Ergebnis ist in solch einem Ansatz notgedrungen immer individuell – es muss individuell sein und es muss es auch bleiben dürfen. Jeder muss daher möglichst anders sein. Dass Talent oft auch eine genetische Komponente hat, ist akzeptiert: Talentiert wird man selten nur durch seine Lehrer. Der Streit um die Frage, wie stark die genetische Komponente dabei ist, bleibt ein akademischer und aus meiner Sicht entbehrlicher. Zumeist handelt es sich ohnedies nur um eine Frage des Standpunkts. Steht man mehr auf der Seite der besonderen individuellen Leistungsvoraussetzung, mit der jeder Mensch zur Welt kommt, so müssen die Gene stark unter Verdacht stehen. Steht man aber mehr auf der ergebnisorientierten Seite, so wird vollkommen klar: Erfolg ist ausnahmslos die Konsequenz aus der Wechselwirkung zwischen Genetik und Umwelt. Talente als genetisch zumindest mitbestimmte besondere Leistungsvoraussetzungen gibt es – sie entziehen sich aber eigentlich der Messbarkeit. Beobachten, bestimmen und messen kann man sehr oft nur den Erfolg – das Produkt aus Genetik und Umwelt.
Ich gebe gerne zu, dass das jetzt etwas viel auf einmal war. Ich versuche es noch zu verdeutlichen: Zwei Menschen, die zum Beispiel in Bezug auf ihre musische Ausbildung genau die gleiche Umwelt hätten, genau gleich viel gelernt, geübt und gearbeitet hätten, mit genau den gleichen Lehrern, würden wahrscheinlich trotzdem niemals „gleich“ oder „gleich gut“ singen. Ich hoffe, ich konnte das klarmachen: Die Stimme des Menschen hat ohne Zweifel biologische Komponenten, wie etwa die Länge der Stimmbänder, der Aufbau des Kehlkopfes, die umgebenden Muskeln – alles ausgesprochen individuelle und verschiedene Aspekte. Und trotzdem, ohne zu üben, üben, üben kann es nie etwas werden mit der Gesangskarriere. Jetzt haben Sie sicher verstanden, was ich meine. Der Mensch startet sein Leben nicht als Tabula rasa. Wer glaubt wirklich, dass jeder singen kann wie Elīna Garanča, oder jeder Fußball spielen kann wie Lionel Messi, oder dass in jedem von uns ein Albert Einstein steckt – es hängt nur von der Ausbildung und vom Einsatz ab? Besondere genetische Leistungsvoraussetzungen gibt es und ich werde so manche in diesem Buch diskutieren. Viel wichtiger aber ist letztendlich die oben erwähnte ergebnisorientierte Sicht. Wenn wir uns auf die Zukunft heute optimal vorbereiten wollen, muss unser Ziel sein, jedem Einzelnen die Chance zu geben, seine individuellen Leistungsvoraussetzungen zu entdecken und sie durch harte Arbeit in eine besondere Leistung umzusetzen. Eine besondere individuelle Leistung ist dann schließlich der heiß ersehnte Erfolg. Besondere Leistungsvoraussetzungen allein sind eben keinerlei Erfolgsgarantie.
Besondere Leistungsvoraussetzungen (= Genetik) können nur durch harte Arbeit (= Umwelt) entdeckt und in eine besondere Leistung (= Erfolg) umgesetzt werden.
Es besteht kein Zweifel: Die Individualität in unserem System kann nicht auf die Genetik reduziert werden, der Mensch kann niemals auf seine Gene reduziert werden. Erfolg ist immer das Ergebnis der Wechselwirkung aus Genetik und Umwelt. Gene sind wie Bleistift und Papier, aber die Geschichte schreiben wir selbst. Doch es scheint, als wollten wir nicht mehr alle Geschichten lesen! Wir begehen gerade den fatalen Fehler zu glauben, nicht jeder Mensch habe Talente und nicht jedes Talent sei wertvoll. Mit diesen beiden Irrtümern muss aufgeräumt werden. Jeder Mensch besitzt Talente, sicher mehrere, vielleicht sogar viele. Und Talente können nicht gewertet werden.
Ich weiß, ich muss Sie nicht noch einmal daran erinnern, dass wir die Fragen der Zukunft nicht kennen und daher nicht wissen, welche Talente wir einmal brauchen werden, welche Begabungen einmal wichtiger sein könnten. Aber haben wir nicht ein Recht darauf, dass alles dafür getan wird, unsere Talente und die der nächsten Generationen zu entdecken? Und ja – natürlich haben wir auch das Recht, uns nicht von unserem Spektrum an persönlichen Leistungsvoraussetzungen einengen zu
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