Die Edda - Die Edda
hatte. Als der isländische Bischof Brynjólfur Sveinsson wahrscheinlich im Jahre 1643 in den Besitz einer Handschrift mit poetischen Texten kam, von denen mehrere mit den von Snorri zitierten übereinstimmten, nahm man an, die lange gesuchte Liedersammlung vor Snorris Edda gefunden zu haben. Man nannte deshalb dieses Werk ebenfalls Edda oder - um es von Snorris Buch zu unterscheiden Ältere Edda und schrieb es dem berühmtesten isländischen Gelehrten vor Snorri zu, dem Priester Sæmundr Sigfússon mit dem Beinamen inn fróði, »der Geschichtskundige« (1056-1133). Deshalb benutzte man für das Werk lange Zeit auch den Namen
Sæmundar Edda im Gegensatz zur Snorra Edda. Aber die Handschrift mit dieser Liedersammlung, wegen ihrer späteren Aufbewahrung in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen Codex Regius der Lieder-Edda genannt, wurde wohl erst um 1270 geschrieben, und auch eine ihr wahrscheinlich vorausgehende, jetzt aber verlorene Handschrift dürfte kaum vor 1250 entstanden sein. So ist die Lieder-Edda, die man oft als Ältere Edda bezeichnete, jünger als die Snorra Edda, häufig jüngere Edda genannt, und von Sæmundr kann die Lieder-Edda schon gar nicht stammen. Wie soll man den Begriff Edda-Lied definieren? Dies ist tatsächlich mit Schwierigkeiten verbunden, denn zunächst kann man so nur die poetischen Werke bezeichnen, die im Codex Regius stehen. Im Jahre 1691 wurde jedoch ein Handschriftenfragment mit einigen Götterliedern bekannt, die sich auch im Codex Regius fanden. Darüber hinaus aber enthielt dieses Fragment A, das bald danach die Signatur AM 748 1, 4to bekam, ein bisher unbekanntes Lied der gleichen Art mit dem Titel Baldrs draumar, »Balders Träume« (Nr. 4). Inhaltlich und formal verwandte Dichtungen fanden sich jedoch bald auch in anderen Texten, vor allem in manchen Fornaldars ǫ gur (» Vorzeitsagas«), also Sagas über Heldensagenund Wikingerstoffe, die in der uns vorliegenden Gestalt meist nicht weiter als bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, teilweise aber älteren Stoff enthalten. So weitete sich der Begriff Eddalieder aus und wird heute als Gattungsbegriff verwendet. Man könnte ihn am einfachsten definieren als »Lieder von der Art, wie sie sich im Codex Regius der Lieder-Edda finden«.
Die älteren Ausgaben der Lieder-Edda hatten sich in der Regel darauf beschränkt, außer den Liedern des Codex Regius nur einige wenige Lieder aus dem Edda- Fragment A und aus Handschriften der Snorra-Edda wiederzugeben. Im Jahre 1903 war jedoch von Andreas Heusler und Wilhelm Ranisch eine wichtige Sammlung herausgegeben worden mit dem Titel
Eddica minora. Dichtungen eddischer Art aus den Fornaldarsögur und anderen Prosawerken. Hier war zum ersten Mal der Versuch gemacht worden, alle Texte, die ihrem Inhalt und/oder ihrer Form nach den Liedern des Codex Regius nahekamen, aus den verstreuten Sagas zusammenzufassen. 1905 war der junge Jurist Felix Genzmer, der sich schon länger für die altnordische Dichtung interessierte, nach Berlin zu Andreas Heusler gegangen, dem damals führenden Forscher im Bereich der altnordischen Literatur; von ihm erhielt er die entscheidenden Anregungen für seine Beschäftigung mit den altnordischen poetischen Texten. Andererseits war es auch Heusler, der sich dafür einsetzte, daß die Genzmersche Übersetzung der Lieder-Edda die groß angelegte Reihe der »Sammlung Thule« eröffnete.
Freilich: Wer diese erste Ausgabe der Edda- Übersetzung Genzmers mit der vorliegenden Ausgabe vergleicht, wird viele Unterschiede feststellen können, und keineswegs nur nebensächliche. Viele Lieder enthalten in der jetzigen Übersetzung mehr Strophen als in der Edition von 1912 und 1920, und auch die Anordnung der Lieder - vor allem im Götterliedteil - ist ganz anders als in der ersten Ausgabe. Diese Edition hat zwar der Forschung kräftige Impulse gegeben, aber in ihrer wechselnden Gestalt spiegelt sie selbst die Entwicklung der Edda- Forschung über viele Jahrzehnte wider. Was für einer Edda begegnen wir denn in dieser Ausgabe? Um dies zu erkennen, muß man auf eine Strecke den verschlungenen Pfaden der Edda- Forschung folgen.
2. Genzmers Übersetzung im Spiegel der Edda -Forschung
Die erste Ausgabe der Übersetzung trägt in vielfacher Hinsicht die Spuren von Andreas Heusler. Genzmer bezog in seine Ausgabe nicht nur die klassischen Edda- Lieder ein, sondern einen großen Teil der Texte, die Heusler und Ranisch in den Eddica minora herausgebracht hatten. So wurde die
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