Die Edda - Die Edda
einige hinzu, die sich nicht im Codex Regius finden. »Balders Träume« (Baldrs draumar) stehen in dem oben erwähnten Edda -Fragment A, das »Merkgedicht von Rig« (RígsÞula) findet sich in einer Handschrift der Snorra-Edda, das »Hyndlalied« (Hyndlolióð) ist in einer großen Sammelhandschrift aus dem späten 14. Jahrhundert überliefert, der Flateyjarbók, und einen Teil des »Hyndlaliedes« bildet die »Kürzere Seherinnenrede« (V lospá in skamma). Das »Fjölswinnlied« (Fiǫlsvinnzmál) ist - zusammen mit dem von Genzmer unter der Spruchdichtung übersetzten »Zaubergesang der Groa« (Grógaldr) nur in jungen Papierhandschriften überliefert. Das »Walkürenlied« (Darraðarlióð) endlich, das bereits der Skaldendichtung nahesteht, wird in der »Geschichte vom weisen Njal« (Njáls saga) überliefert.
Diese 16 Texte sind nach Inhalt, Form und Alter sehr verschieden. Ehe wir uns aber einige von ihnen etwas näher betrachten, muß eine generelle, für das Verständnis der eddischen Götterdichtung allerdings entscheidende Frage gestellt werden. Wenn es sich bei diesen Liedern oder zumindest bei einigen von ihnen wirklich um Texte handelt, die in die Zeit des Heidentums zurückgehen, heidnische Mythen und Vorstellungen wiedergeben und damit etwas vom Glaubensleben des Nordens in paganer Zeit widerspiegeln, dann ist es schwer zu begreifen, wie sie im 13. Jahrhundert, also mehr als zwei Jahrhunderte nach der Einführung des Christentums in Island, aufgezeichnet werden konnten. Bis auf ganz geringe und vereinzelte Ausnahmen können wir in keinem Land germanischer Sprache etwas Ähnliches beobachten. Wenn man in England oder Deutschland Spuren heidnischer Vorstellungen erkennen
kann, so findet man sie meist in Abschwörungsformeln, in Synodalberichten und dergleichen, in Texten also, in denen man sich gerade gegen solche Äußerungen des Heidentums wendet. Wirkliche Götterlieder wie im Norden gibt es im germanischen Sprachgebiet sonst nicht. In Island aber existiert nicht nur eine solche überraschende Fülle an Götterdichtungen, sondern mit der Prosa-Edda des Snorri Sturluson besitzen wir sogar eine geschlossene, systematische Darstellung der heidnischen Mythologie, ein Unikum nicht nur in der germanischen, sondern auch in den anderen volkssprachlichen Überlieferungen des Kontinents. Man kann das sicher nicht damit erklären, daß sich hier, in der Abgeschiedenheit Islands, solche alten Traditionen eben besser erhalten hätten als im Süden. Denn erstens war Island keineswegs so abgeschieden, wie man sich das oft vorstellt, es hatte regen Anteil an den theologischen, wissenschaftlichen und literarischen Entwicklungen Europas, und außerdem ist es mit der Erhaltung alter Überlieferungen allein nicht getan: Damit sie die Zeiten überdauern, müssen sie ja auch niedergeschrieben werden. Die Kunst des Schreibens aber ist erst mit dem Christentum nach Island gekommen, und wer im 13. Jahrhundert in Island wie auch sonst in Skandinavien diese Fähigkeit beherrschte, war entweder selbst Geistlicher oder war von Geistlichen erzogen worden oder in einem geistlich bestimmten Umkreis aufgewachsen. Dies gilt auch für Snorri, der seine Jugend auf dem Hofe Oddi in Südwestisland verlebte, einem der großen Zentren geistlicher Gelehrsamkeit, wo ein paar Jahrzehnte vor Snorri auch Sæmundr Sigfússon gewirkt hatte. Die Niederschrift von eddischen Götter- und Heldenliedern konnte ebensowenig gegen den Willen der Geistlichkeit erfolgen wie Snorri seine Prosa-Edda gegen den Willen der Kirche hätte schreiben können, aber diese Frage stellte sich gar nicht. Das eigentlich Erstaunliche an der altisländischen Literatur ist nicht, daß sich hier so viele ältere Überlieferungen halten konnten,
sondern daß sie sich auch unter ganz anderen geistigen und religiösen Bedingungen weiterentwickelten und daß sie am Ende aufs Pergament gebracht wurden. Dieses Phänomen vor allem gilt es zu erklären, doch kann das hier nur mit ein paar kurzen Andeutungen geschehen.
Die erste Voraussetzung für das Weiterbestehen älterer Traditionen war die Art, wie in Island das Christentum angenommen wurde. Viele Isländer waren schon vorher in Kontakt mit dem neuen Glauben gekommen, manche waren auch bereits während des 10. Jahrhunderts Christen geworden. Gegen Ende des Jahrhunderts verstärkte der norwegische König Olav Tryggvason seine Missionsbestrebungen, es gab widerstreitende Parteien in Island, und die Frage des Glaubens bedeutete
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