Die Edda - Die Edda
bestimmen, vor allem auch, weil sichere Kriterien für eine Datierung weithin fehlen. Deshalb ist es nicht zu verwundern, daß sich die Datierungsvorschläge einzelner Forscher manchmal so stark unterscheiden. Während etwa Jan de Vries, Verfasser einer noch heute wertvollen Altnordischen Literaturgeschichte die Lieder »Balders Träume«, »Skirnirlied«, »Thrymlied« und das »Merkgedicht von Rig« in die Zeit zwischen 1150 und 1300 datierte, meinte der Isländer Einar Ólafur Sveinsson fast zur gleichen Zeit (1962), diese Lieder seien alle vor 1000 entstanden, also noch in heidnischer Zeit. Auch in unseren
Tagen gehen die Schätzungen über die Entstehungszeit einzelner eddischer Lieder oft weit auseinander.
Am Anfang des Codex Regius wie am Anfang der vorliegenden Sammlung steht »Der Seherin Gesicht« (V lospá), ein Lied, das in der germanischen Literatur kein Gegenstück hat. Der Text ist einer Seherin in den Mund gelegt, sie sieht tief in die Vergangenheit und weit in die Zukunft und verkündet das Geschick der Welt von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. In großartigen Bildern werden die wichtigsten Ereignisse beschrieben, oft wird auf sie nur angespielt; der Stoff muß also im allgemeinen als bekannt vorausgesetzt worden sein. Viele Mythen werden ganz kurz genannt: wie Bors Söhne die Welt erschaffen, indem sie die Erde vom Grunde des Meeres emporheben, wie die Gestirne und die Zeiten geordnet werden. Das Lied beschreibt kurz das anscheinend glückliche Leben der Götter, aber auch den ersten Krieg zwischen den Asen und Wanen. Im Mittelpunkt des Liedes steht der Tod des Gottes Balder durch einen auf ihn geschossenen Mistelzweig, dem dann der allmähliche Verfall der sittlichen Ordnungen folgt (S. 38):
»Brüder kämpfen und bringen sich Tod,
Brudersöhne brechen die Sippe;
arg ist die Welt, Ehbruch furchtbar
Schwertzeit, Beilzeit, Schilde bersten,
Windzeit, Wolfzeit, bis die Welt vergeht.«
Die Feinde der Götter nahen heran, die Riesen, der Fenriswolf, die Midgardschlange, auch Loki, der ausgestoßene Gott. Odin unterliegt dem Fenriswolf und Thor seinem Erzwidersacher, der Midgardschlange, aber er tötet sie auch selbst. Mit wenigen eindrucksvollen Versen wird der Untergang der Welt geschildert (S. 40):
Die Sonne verlischt, das Land sinkt ins Meer;
vom Himmel stürzen die heitern Sterne.
Lohe umtost den Lebensnährer;
hohe Hitze steigt himmelan.
Und dann steigt zum zweiten Male die Erde aus dem Meer empor, eine neue goldene Zeit bricht an:
»Unbesät werden Äcker tragen;
Böses wird besser, Balder kehrt heim.«
Bei kaum einem anderen Eddalied kann man so viele Fragen stellen wie bei der V lospá; kommen hier nur heidnische Vorstellungen zum Ausdruck? Oder ist das Wiedererstehen der Welt nach ihrem Untergang christlich zu erklären, ist der goldbedeckte Saal Gimle (S. 41) ein Abbild des himmlischen Jerusalem? Vieles spricht dafür, daß das große Visionsgedicht zu Ende des 10. Jahrhunderts geschaffen wurde, wohl in heidnischer Umgebung, aber vielleicht bereits als Reaktion auf die christliche Meinung, die Welt werde im Jahre 1000, zu Ende des tausendjährigen Reiches nach der Offenbarung des Johannes, untergehen. Da läßt es sich nicht einfach sagen, ein solches Lied sei christlich oder heidnisch, es spiegelt vielmehr die historische Situation in faszinierender Weise wider.
Genzmers Interesse richtete sich aber eher - es wurde oben schon gesagt - auf das Lied als Kunstwerk, als literarisches Gebilde. Verse, Strophen oder Strophenteile, die offensichtlich mangelhaft oder gestört überliefert sind, läßt Genzmer gelegentlich aus. Um ein Beispiel zu nennen: Auf S. 36f. wird in Str. 25 und 26 vom Tode Balders berichtet; die Str. 26 (der Übersetzung) setzt sich aber aus zwei Teilen zusammen, der ersten Hälfte der Str. 32 (des Originals) und der zweiten Hälfte der Str. 33. Dazwischen liegen vier Kurzzeilen, die den
Fluß des Textes stören. Aber in ihnen wird berichtet, daß Balders Bruder, ein Sohn Odins, erst eine Nacht alt, den toten Bruder rächte: »Er wusch nicht die Hände und kämmte nicht das Haar, bis er Balders Widersacher auf den Scheiterhaufen brachte«. Dieser Rache-Mythos ist auch durch andere Quellen bezeugt, es muß sich also sicher um eine alte Vorstellung handeln.
Es gibt nur wenige Edda -Lieder, die einer Interpretation nicht erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Als Beispiel seien »Lokis Zankreden« (Lokasenna) genannt. Loki schmäht bei einem Gastmahl alle Anwesenden mit immer
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