Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
vertrieben. Zuvor hatte ich mich vergewissert, dass die Wirtszwillinge unter dem Namen „H & M German“ das Stockwerk über ihrer Kneipe bewohnten, dass die Hintertür zum Haus verschlossen war und meine Anwesenheit daher wohl überflüssig. Denn welcher Einbrecher schließt schon die Tür hinter sich zu? Ein besonders dämlicher oder ein besonders gewitzter? Ich gab mir fünf Minuten, das herauszufinden, schon gefroren meine Füße, schädigte die Bückhaltung meine Rückenmuskulatur, meldete sich die Blase und wollte eine gelbe Skulptur in den Schnee stellen. Scheiß These, dachte ich. Was kann es schon Schlimmeres geben als in Arscheskälte hinter einem miefigen Mülleimer in einem tristen Hinterhof vor einer verschlossenen Hintertür drauf zu warten, dass sich etwas tut?
Ich sollte es erfahren, als mich ein Geräusch aus meinen Überlegungen riss, ein Geräusch, das von der Tür kam und wie das Umdrehen eines Schlüssels klang. Genau. Das war noch schlimmer als das, was ich gerade tat. Jetzt musste ich mich auf einen Einbrecher stürzen (keine Lust) oder so tun, als sei ich gar nicht da (was die Frage aufwarf, wozu ich überhaupt da war) oder versuchen, dem Einbrecher zu folgen (haha, durch menschenleere Straßen und nenne mir mal jemand einen vernünftigen Grund!). Ich sah einen Schatten in der Tür, er bewegte sich. Meine Gedanken hingegen waren sehr unbeweglich. Der Schatten war ein Mensch, er kam langsam näher, würde an mir vorbeigehen, mich hoffentlich nicht bemerken (gute Gelegenheit, mich auf ihn zu stürzen?), er trug etwas unter dem rechten Arm, konnte ein Buch sein.
Was also tun? Ich bin ein Anhänger der These, dass Nichtstun nichts Ehrenrühriges ist, immerhin wusste ich nun, dass bei den Wirtsschwestern eingebrochen worden war, was als Information genauso unverächtlich sein durfte wie die, der neue FDP-Vorsitzende mache jetzt alles erst einmal anders und dann besser und dann mal gucken, was dabei herauskommt. Der Mann lief langsam an mir vorbei, war noch drei Meter von mir entfernt und blieb plötzlich stehen, schaute in meine Richtung. Sagte auf einmal: „Is was, Jonny?“ und der so gefragte Jonny antwortete, in meinem Rücken stehend: „Nö, Bernie, ich guck nur, was der Penner hier vorhat.“
Der Penner war ich. Wie war das noch mal mit der These? Wenn du etwas Schlimmes machen sollst, dann mach es, weil blabla sonst noch Schlimmeres... Ich ergänzte diese These nun wie folgt: Wenn du etwas Schlimmes tun willst, weil du glaubst, es komme etwas Schlimmeres, wenn du es nicht tust, dann beachte bitte, dass dann, wenn du etwas Schlimmes tust, etwas noch viel Schlimmeres auf die warten kann. Zum Beispiel ein gewisser Jonny, der dir eine Knarre an die Schläfe hält und ein gewisser Bernie, der „Na, dann steh mal auf, Penner“ sagt.
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„Weißt du was komisch ist, Jonny?“ Jonny wusste es nicht und popelte stattdessen mit dem Lauf seiner Knarre in der Vertiefung, die dieser Lauf an meiner Schläfe eingedrückt hatte. „Sags mir, Bernie, wenn’s komisch ist, will ich mitlachen.“
Wir saßen gemütlich im Wagen meiner beiden Gastgeber, Bernie vorne hinterm Steuer, Jonny und ich auf der Rückbank. „Ach“, hatte Jonny gesagt, als er sich meine Visage im Schein der Innenbeleuchtung betrachtete, „das ist doch unser Freund Moritz, der Privatdetektiv. Cleveres Bürschchen, hat mich abgehängt wie ein ganz Großer aus dem Fernsehen. Nehms dir nicht übel, Schwamm drüber.“ Tatsächlich, das war der Kerl, der mich verfolgt hatte, ich schob die Augäpfel nach rechts, dann wieder zurück auf Bernies Hinterkopf, wo mir die Haarwolle eines drahtigen Mittdreißigers entgegenlachte. Apropos lachen. „Na“, sagte Bernie jetzt, „heut is doch der letzte Tag des Jahres. Für uns alle, ne? Aber für unseren Freund hier is das vielleicht auch sonst irgendwie der letzte Tag. Doch saukomisch, was? Hättste auch selbst drauf kommen können.“ Kicherte kurz und übel und ließ den Motor des Wagens an. „Wo fahren wir hin?“
Hätte mich auch brennend interessiert. „Fahr mal aus der Stadt, Richtung Wald. Gepflegtes Gespräch unter Männern.“ Jonny war hier der Chef, schien jedenfalls so. Er roch ein wenig streng nach Bratenfett, Berufskrankheit, nahm ich an. Man sitzt in Autos und beobachtet und wartet, die Tüte mit Fritten und die Frikadelle der einzige orale Trost. „Na, mein Freund, was denkst du gerade?“ fragte Bernie von vorne und drehte mir kurz sein Profil zu, die
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