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Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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die Orientierungslosigkeit des modernen Menschen, aber es erfüllte seinen Zweck: Ich gähnte auch. Streckte mich noch einmal, löschte das Licht – und wurde hellwach. Jedes Geräusch, das Nacht und Dunkelheit fabrizierten, wurde zur Quelle unendlicher Gefahr. Ich wusste, dass die Dachbalken fleißig arbeiteten, besonders nachts, wenn man sie hörte, aber konnte da oben nicht auch jemand herumschleichen? Nur: Wozu sollte er das tun? Und warum jemand versuchen, mir unauffällig zu folgen, um dann sehr auffällig über mir auf dem Speicher nächtens herum zu trampeln? Solche Überlegungen plagten mich. Kein vernünftiger Mensch kann dabei einschlafen.
    Ich erwachte, weil das Telefon klingelte. Es war noch nicht einmal Mitternacht, mein „Ja?“ klang verschlafen und gereizt. Die Stimme am anderen Ende nahm es nicht zur Kenntnis, sie klang hellwach und panisch. „Sonja ist weg!“ sagte Oxana. Und da mir dazu nichts einfiel, fuhr sie fort: „Als wir vorhin von der Lesung gekommen sind, war sie nicht mehr da. Ihre Sachen weg, sie weg. Marxer sitzt deprimiert in seinem Arbeitszimmer und denkt vor sich hin.“
    Ich versprach, zu Sonjas Wohnung zu gehen, ja, sofort natürlich, ich war schon aufgestanden und fahndete nach meiner Hose. „Und wenn sie nicht dort ist?“ Oxanas Frage war beinahe rhetorisch. Wir gingen beide davon aus, dass die Wohnung leer sein würde, wenigstens menschenleer. „Werden wir dann sehen“, sagte ich und fragte mich, was wir dann sehen würden. Sie müsse auflegen, sagte Oxana, Marxer rumpele heran, Gewitterwolken um sich herum, so etwas spüre sie schon von weitem. „Wenigstens hat er sie nicht mehr unter seiner Kontrolle. Auch ein Gutes.“ Dem stimmte ich zu und wir verabschiedeten uns.
    Die „Bauernschenke“ lag friedlich und dunkel, gegenüber die Webersche Wohnung ebenso. Der Schneefall hatte zugenommen, aus den graziösen Ballerinen waren dickleibige Kerle geworden, die schnell und ohne eine Spur von Rhythmus erdwärts stürzten, Kometen, aus Jumbojets abgeworfener Biomüll in Eisblockgestalt. Auf mein Klingeln reagierte niemand, vorauszusehen, ein zweiter Versuch war obligatorisch und genauso erfolglos. Sonja Weber war nicht da oder sie öffnete nicht.
    Irgendwie schien es eine Familientradition der Webers zu sein, spurlos zu verschwinden. Ich hatte nichts dagegen, solange das alles in der Familie blieb und mich nicht behelligte. Tat es aber. Sofort fiel mir der monströse Ort Großmuschelbach ein, daher war Sonja gekommen, dahin würde sie zurückkehren. Oder doch nicht? Und wenn sie Marxers Haus gar nicht freiwillig verlassen hatte? Ich hätte Oxana näher befragen müssen, nach Spuren, die die Anwesenheit Fremder nahe legten, nach Unordnung, nach Zeichen eines unfreiwilligen Aufbruchs eben.
    Dann schlug es Mitternacht und der letzte Tag des Jahres begann. Das Wetter sah keine Veranlassung zu einer Zäsur, es machte weiter wie bisher, mein Haar, meine Kleidung waren längst weiß geworden, ich sehnte mich nach der Gemütlichkeit der „Bauernschenke“,  nach einem Glühwein, ich sehnte mich nach irgendetwas, aber die „Bauernschenke“ hatte geschlossen. Sie hatte geschlossen. Und warum huschte gerade Taschenlampenlicht über die Decke der Wirtsstube?
     
     
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    Bildete ich mir das nur ein? Eine Lichtgestalt – nein, nicht der entpromovierte Freiherr – war kurz über die Decke gehuscht und über die Wand ins Wiederdunkel abgestürzt. Wahrscheinlich hatte irgendjemand im Haus gegenüber, dort wo Sonja Weber wohnte oder gerade nicht wohnte, Licht gemacht, dessen Schein durch das Fenster in die Wirtsstube gefallen war. Aber das Haus gegenüber war dunkel. Lieber Gott, flehte ich, schenk mir einmal eine halbwegs normale Nacht mit mäßig erotischen Träumen, ok, dann eben traumlos, aber nicht schon wieder diese starkgebärdige Realkolportage. Hält ja kein Mensch aus. Gott, der alte Krimiheftchenleser, lachte nur und donnerte „Nö“.
    Ich bin ein Anhänger der These, man solle Dinge, die man partout nicht erledigen will, doch erledigen, weil die Dinge, die dann eintreten, wenn man etwas nicht erledigt, noch schlimmer sind. Also suchte ich den Hinterausgang der „Bauernschenke“, fand ihn – was lag näher – auf dem Hinterhof und legte mich in den Hinterhalt, von einer stinkigen Mülltonne verdeckt, aus der mir die Düfte angebissener Wienerwürste, ausgespieener Leberknödel und übriggebliebenen Sauerkrauts entgegenwehten und auf recht unangenehme Weise die Zeit

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