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Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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einen Besuch abzustatten, ich befand mich auch schon in der Nähe ihres kleinen Häuschens. Zuvor musste ich jedoch meinen Verfolger abschütteln oder, noch besser, den Spieß umdrehen und zu seinem Verfolger werden. Wie ich das anstellen sollte, war mir im Moment nicht bekannt. Ich beschloss, ihm wie Poe die entsetzlichsten Viertel der Stadt zu zeigen, was nicht schwer war. Ich musste einfach nur beliebig durch die Straßen flanieren.
     
     
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    Ein Psychiater hat mir mal die Sache mit den Zwangsneurosen erklärt (anlässlich einer Sperrmüllabfuhr, bei der ich mich für seine alte Couch interessierte). Der Reimzwang, beispielsweise. Man verspürt DURST und denkt an WURST. Oder denkt an GOTT und sieht unwillkürlich ein SCHAFOTT vor sich. Übrigens: Herr Joseph-Ignace Guillotin, Erfinder der GUILLOTINE, nannte seine erste Tochter ERNESTINE, da traf es sich gut, dass sich der Ausdruck FALLBEIL noch nicht eingebürgert hatte. Nur auf Guido reimt sich gar nichts, von LIDO einmal abgesehen.
    Warum erzähle ich das jetzt? Weil mir einen Moment der Verdacht kam, unter Verfolgungswahn zu leiden. Hilfe, Herr Doktor, aber warum kann ich die Hose, die ich gerade trage, nicht abschütteln, warum folgt sie mir auf Schritt und Tritt? Nein, die Geschichte war zu ernst für billige Witzchen und Selbstbelustigung. Meine Nerven waren angespannt, sie befanden sich in einem Zustand delikater Labilität, ich mutmaßte das Böse allüberall, streifte ziellos durch die Stadt, blieb vor Schaufenstern stehen, nutzte den immer kleiner werdenden Sonnenrest aus, um mich zu orientieren, ob dieser Mensch sich weiterhin in meinem Schatten herumdrückte. Er tat es. Dieser so auffällig unauffällige Kerl – er trug einen Wildledermantel, einen Schlapphut, aber keine Sonnenbrille, war mittelgroß, mittelschlank und nicht mittellos, ließ sich nicht abschütteln.
    Geh in ein Kaufhaus, sagte ich mir, und tue folgendes: In die Miederwarenabteilung, da wird er zögern, denn Männer gehen nicht gerne in die Nähe von öffentlich feilgebotener Damenunterwäsche. Mische dich unter die Kundinnen, prüfe die Qualität der Büstenhalter, frage deine zufällige Nebenfrau, wo man die Körbchengröße „medium“ findet, nutze die dadurch entstehende Verwirrung, springe rüber in die Damenoberbekleidung, verdrücke dich in die Umkleidekabine – nein, der Typ hinter mir war Profi, den konnte man mit solchen Finten nicht verwirren. Ich versuchte es trotzdem.
    Aber ganz anders. An der Ecke Weingartenstraße / Brunnengässchen gibt es das Café Oberthaler, einen schicken Laden mit schickem Publikum und einem Hinterausgang, denn im Café Oberthaler treffen sich Hausfrau und Hausmann jeden Morgen zu Frühstück und Seitensprung. Nein, nicht schon wieder Frühstück, es wäre das vierte gewesen, nur hineingehen und einen Espresso bestellen, sofort bezahlen, die Toilette aufsuchen, durchs Hintertürchen elegant verschwinden, durch das Brunnengässchen mich in den Rücken meines Verfolgers schleichen und dann – ihn verfolgen? Konnte schief gehen. Also lieber nicht, lieber gleich die Fliege machen.
    So geschah es. Ich bestellte meinen Espresso, den ich niemals trinken würde, presste die Oberschenkel entschuldigend zusammen, entfernte mich in Richtung Toilette, die ich – wenigstens heute – nicht frequentieren würde, fand die Hintertür offen und erreichte das stille Oberthaler Gässchen, wo sich mehrere Nobelboutiquen abseits vom Plebs der Konfektionsträger herumdrückten und auf das Geld der Freunde des Exklusiven warteten, sah mich um – nein, nicht verstohlen, wie das immer heißt, sondern ganz natürlich und normal – und entfernte mich eiligen Schrittes. Noch einmal umdrehen: niemand hinter mir. Richtung Fußgängerzone, Richtung Irmis Wohnung – noch mal umdrehen: Der Junge mit der Gitarre schlurfte in zwanzig Metern Entfernung in meine Richtung, blickte zu Boden und versuchte sich an den Text von Dylans „Mr Tambourine Man“ zu erinnern. Noch ein Zufall? Ich beschloss, ihn gelten zu lassen, schlug aber vorsichtshalber mehrere Haken, bis ich mir sicher war, dass ich den Verfolgungswahn vorläufig ad acta legen konnte und dem Reimzwang noch nicht verfallen war. Ich hatte Durst bekommen, dachte nicht an Wurst, ich dachte nicht an Gott, wohl aber an das Schafott, dem ich vielleicht entgangen war, nur: So sicher konnte ich mir da nicht sein.
     
     
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    Die Dämmerung setzte noch früher ein als sonst zu dieser Jahreszeit. Die Sonne kauerte hinter

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