Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Schläfe, Tür auf, Moritz raus und Abfahrt. Die Klamotten muss ich sowieso wegwerfen, die stinken nach Kneipe.“
Ja, die Kneipe. „Hast eigentlich was gefunden, Bernie?“ Der nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette und nickte, griff neben sich auf den Beifahrersitz und hob einen Gegenstand auf, der aussah wie ein dickes Fotoalbum. Sagte auch erwartungsgemäß: „Fotoalbum. Scharfe Aufnahmen“ und Jonny: „Ok, später, legs mal so hin, dass nicht das Blut von unserem Moritz da ne Sauerei drauf macht.“ Es waren professionelle Killer, das merkte ich, sie dachten wirklich an alles.
Immerhin: An einem 31. Dezember zu sterben, hatte einen entscheidenden Vorteil. Man konnte sich den Todestag leicht merken und das eventuelle Bedürfnis nach stillem Gedenken locker mit einer prima Party verbinden. Aber wer würde das schon tun? Hermine vielleicht, aber selbst das bezweifelte ich. Auf Dauer war das Dasein einer Witwe, die mit dem Ihrigen niemals verheiratet gewesen war, nicht befriedigend. Sie würde eine Zeitlang um mich trauern, um sich dann dem nächsten Abenteuer zu widmen. Das konnte ich ihr nicht verdenken, dennoch deprimierte es mich leicht.
„Sag mal“, meldete sich Bernie wieder zu Wort, „du nimmst aber schon den Schalldämpfer, ne? Letztes Mal hab ich ja fast nen Hörsturz gekriegt, als du im Auto einen gekillt hast.“ Jonny grunzte. „Guck mal vorne im Handschuhfach liegt Ohropax. Steck dir die Dinger rein, das geht schon. Gib auch zwei für Moritz, der hört den Knall nämlich am lautesten.“ Bernie verschluckte sich am Rauch seiner Zigarette. „Mensch, mach nicht so Witze, wenn ich grad rauche. Und leg endlich los, ich will nach Hause ins Bett.“ Wieder grunzte Jonny. „Mach mal den Mund auf, Moritz, aber ganz langsam und keine Dummheiten.“ Ich tat es wirklich und spürte sofort den kalten Stahl des Laufes an meinem Gaumen. „Dann tuts nicht so weh, Alter. Und guck mal, du kannst sogar sehen, wie ich den Finger krumm mache.“ Er hatte Recht. Ich sah, wie er den Finger krumm machte.
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Das Leben müsste ein Kriminalroman sein. Dort nämlich überlebt der Ich-Erzähler garantiert und löst am Ende den Fall. Doch wer auch immer mein Leben geschrieben hat, er spielte die Ausnahme von der Regel, ließ Jonny den Abzug durchdrücken und mich sterben. Die Kugel torpedierte sich durch den Lauf, haute mir den Gaumen, das Gebiss und alles weg, sorgte für High Life in meinen grauen Zellen, ließ sich von der Schädeldecke nicht stoppen und erreichte im Flächenbrand meiner Haare wieder frische Luft, schlug knapp oberhalb des Seitenfensters in die Karosserie und blieb dort stecken. Vor lauter Schiss hatte ich völlig vergessen, dass ich originelle letzte Worte sagen wollte, na ja, es hätte sie eh keiner überliefert und außerdem: Das konnte ich getrost beim nächsten Mal nachholen.
Denn ich war gar nicht tot. Jonnys Finger hatte den tödlichen Prozess angestoßen, dieser war jedoch an einem sehr banalen Umstand gescheitert: Es befand sich keine Patrone in der Kammer, der Bolzen schlug ins Leere, es machte „klack“ – und das war’s auch schon. „Mist“, lachte Jonny, „jetzt hab ich heut Morgen doch tatsächlich vergessen, mein Handwerkszeug zu kontrollieren. Peinlich, peinlich.“ Kollege Bernie auf dem Fahrersitz lachte sich beinahe weg. „Mensch, Jonny, du wirst alt! Ich hab dir gestern gleich gesagt, niete den Typen nicht mit allen sechs Kugeln um, lass wenigstens eine drin, wer weiß, wozu man die mal brauchen kann.“
Ich schwamm in meinem Schweiß. Jonny zog den Stahl aus meinem Mund, nahm ein Stofftaschentuch aus der Jacke und rieb ihn sorgfältig trocken. „Hygiene is alles, lieber Moritz, unser größtes Berufsrisiko besteht darin, sich irgendwelche Grippeviren zu fangen, wenn einem der Kerl, den man gerade umlegen muss, auf die Waffe niest.“ Sollte ich ihn jetzt bedauern? Ich hatte genug zu tun, diesen chaotischen Film zu rekonstruieren, der in den wenigen Augenblicken, als Jonny den Abzug durchgezogen hatte, vor meinem inneren Auge abgelaufen war. Eine grüne Wiese mit sehr vielen Blumen, darüber blauen Himmel und in der Entfernung eine muhende Kuh. Kein Zweifel: eine Werbung für Alpenschokolade.
Bernie ließ den Motor an und fuhr rückwärts über den Feldweg auf die Straße. Er wendete, steuerte der Stadt zu, wir saßen da und schwiegen. Bis Jonny ein „So“ hören ließ. „So. Du hast noch einmal Glück gehabt, lieber, lieber Moritz. Wir hätten dich
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