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Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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wiedergefunden, in der auch meine Siebensachen und die von Regitz vollständig verstaut worden waren. Nur die Pistole fehlte, was nicht weiter überraschte. Wir hatten Geld, wir hatten Papiere. „Und du, Mohamad? Zurück nach Jersey?“ Er seufzte. „Nee. Wir haben beschlossen, uns zu trennen, wenn wir erst einmal an Land sind. Kleine Gruppen oder einzeln. Jeder ist seines Glückes Schmied. Sagt man bei euch doch, oder?“
    Sagt man. Und noch mehr wohlfeilen Unsinn. Wir stiegen über die Schlafenden, drehten eine Runde, rauchten. Wieso er nicht in Deutschland geblieben sei? Ein Theologe und Maschinenbauer, der Sprache mehr als mächtig? „Junge Frau, eine kleine Tochter in Abidjan.“ Ich vermied es, ihm in die Augen zu sehen. „Der Bürgerkrieg. Pogrome. Vergewaltigende und sengende Soldateska. Dicke weiße Franzosen und anderes Gesox in sicheren Hotels, wo man die Fäden ziehen kann. Rohstoffe. Afrika funktioniert nur, wenn es nicht funktioniert. Ist nur profitabel, wenn es hungert. Eine junge Frau. Eine kleine Tochter.“ Das klang wie „Ein Päckchen Kaugummi. Ein Stück Brot.“ Waren, Gegenstände, Verbrauchsgüter. Konsumiert und abgehakt, ausgeschissen, vernichtet, vergessen.
    Wir waren zu Vika und Regitz zurückgekommen. Die schwiegen jetzt auch und so lehnten wir über der Reling, die flache Fieberkurve der Küste bewegte sich oder wir bewegten uns, ein dunkler Leuchtturm streckte sich unnütz wie der Zeigefinger eines überforderten Lehrers ins Nichts, ein Felsen, auf dem ein morgendlicher Spaziergänger als beweglicher Punkt zu erahnen war und sich über ein Schiff wunderte, ihm nachsah, sich endlich umdrehte und seinem Frühstück zueilte.
     
     
    206
    Unweit der Stadt Deauville wurde die Yacht auf den Strand gesetzt. Es war trocken, nicht mehr ganz so kalt, der Himmel blassblau wie die Tinte in Liebesbriefen. Eine Ameisenkarawane, so musste es einem entfernten Beobachter vorkommen, doch wir hofften, es gebe ihn nicht, keinen braven Bürger mit allzeit bereitem Denunziantenhandy, keinen, dem die Sorge um die Reinheit der Rasse und die Unbezahlbarkeit des Sozialstaates jede Nacht so sehr den Schlaf raubte, dass er unruhig am Strand entlang laufen musste, um verdächtige Anlandungen zu gewahren. 77 Sans Papiers, 77 Unerwünschte, 77, deren Wege sich gleich trennen würden. Und drei übermüdete Hanseln nach einem irren Abenteuer. Wir sahen uns um.
    „Schön, euch kennengelernt zu haben“, sagte Mohamad Ndaye. Wir hatten ohne viele Worte unsere Barschaften zusammengelegt und bis auf was weniges, das wir für die Rückfahrt nach St.Malo brauchen würden, dem Senegalesen zugesteckt. „Und besuch mich mal, wenn du es nach Deutschland geschafft hast“, sagte ich und schrieb ihm meine Adresse auf. „Und im nächsten Leben bitte adoptieren lassen, in die FDP eintreten und Vizekanzler werden“, riet Vika. „Ach“, staunte Ndaye, „ihr geht davon aus, dass es in meinem nächsten Leben noch eine FDP geben wird?“
    Unsere Wege trennten sich. Wir trotteten Richtung Deauville, die Gruppe der 77 versammelte sich um Mohamad, man palaverte mit gedämpften Stimmen. Die erste Kurve und alles verschwand wie ein bizarrer Traum. Deauville besaß einen hübschen Bahnhof, drei Gaupen empfingen uns, in der mittleren die Bahnhofsuhr, sie hatte ihren kleinen Zeiger auf der 8 platziert. Wir durchforschten den Fahrplan, stellten unsere Route zurück nach St. Malo zusammen, eine kleine Odyssee, lösten die Billets, hatten noch etwas Zeit und etwas Geld, setzten uns in die Bahnhofsgaststätte um zu frühstücken, schwiegen, die Gedanken irgendwo anders.
    Im Zug. Das Gleichmaß der Geräusche, Schläfrigkeit, Wegnicken. Haltebahnhöfe und allerlei französische Vokabeln, die an unseren geschlossenen Augen vorbeiwehten. Immer noch halbwegs blauer Himmel draußen. „Wo ist eigentlich Regitz?“ Ich öffnete die Augen, der Platz mir gegenüber, dort, wo sich der mächtige Alte vor einer Stunde hingesetzt hatte, war leer. „Auf Toilette?“ schlug ich vor. „Ja, vor einer halben Stunde“, relativierte Vika. „Dann hat er sich aus dem Staub gemacht“, schloss ich messerscharf. „Sieht so aus": Vika, nicht weniger scharf. Sollten wir uns darüber freuen oder traurig sein? Wir waren zu erschöpft, um solche existentiellen Fragen zu beantworten. Vika sagte nach fünf Minuten: „Der Typ hat uns sowieso die Hucke vollgelogen, ich wette, er läuft uns in St. Malo wieder über den Weg. Er hat kein Geld, er muss auf Umwegen

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