Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Buchhändlerin gegenübersitzt. Irgendein frühkindliches Trauma, das man besser ruhen lassen sollte. Ich riss mich also zusammen und begann zu berichten, welche Erkenntnisse ich im Fall des verschwundenen Georg Weber bisher gewonnen hatte. Den ominösen Lothar verschwieg ich.
29
„Oh, das ist seltsam!“
Der abgespreizte kleine Finger an Sonja Webers Teetassenführhand zuckte ein klein wenig, als ich ihr von meinem Besuch bei Gebhardt und Lonig, Im- und Export berichtete.
„Sie haben sein Büro leergeräumt, das Schild an der Tür entfernt – heißt das etwa....“ Jetzt begann sie zu zittern und stellte die Tasse ab.
„Nein, nein“, versuchte ich meine Klientin zu beruhigen, obwohl ich den Gedanken, der gerade in Sonja Webers Kopf rumorte, ebenfalls für den plausibelsten hielt. Schon Stalin wusste, wie man säuberte, man bringt jemanden um und dann tut man so, als habe dieser Jemand nie existiert. Gebhardt und Lonig mochten keine Stalinisten sein, aber lernmäßig äußerst flexibel.
„Wir sollten nicht das Schlimmste befürchten“, sagte ich, das Schlimmste befürchtend, „es gibt 1000 andere Erklärungen, die viel harmloser sind.“ Ich nickte tapfer aufmunternd und überlegte, welche 1000 Erklärungen das sein könnten, aber mir fiel keine einzige ein. Wir hoben unsere Teetassen zur gleichen Zeit und tranken sehr langsam, um nichts sagen zu müssen.
In solchen Momenten müsste es an der Tür klingeln und die Nachbarin um ein Ei für das Pilzomelette nachfragen oder wenigstens das Telefon, sind Sie Herr Södermann, nein, falsch verbunden. Es geschah weder das eine noch das andere, es war still, das Bild des größten anzunehmenden Unfalls, der ein Mord war, stand im Raum.
„Ich müsste mich mal umsehen“, sagte ich endlich. Sonja Weber nickte. Natürlich, das müsse ich, das verstehe sie. Ich begann im Wohnzimmer, öffnete die Türen und Schubläden des Schrankes, blätterte mich durch unauffällige Kontoauszüge, die Georg Weber als Bezieher eines mittleren Einkommens auswiesen, las flüchtig über Versicherungsschreiben – ein kleiner Wasserschaden, mehr nicht – und entdeckte ein dünnes Bündel intimer, mit einer „Margot“ gewechselter Briefe, eine Korrespondenz, die am 12. April 1998 mit dem Weberschen Satz „Ich möchte so gerne das Schnürchen an deinem Tampon sein“ (hier hatte er Prinz Charles leicht variiert) begonnen hatte, um am 29. Juni 1998 mit Margots „Fick dich, du Arsch!“ desillusioniert zu enden. Dazwischen lagen schwülstige Verbalerotik und diverse Ehestandsbeförderungspläne, das Übliche also.
Auch meine Recherchen in Schlaf- und Arbeitszimmer, in Küche und Bad blieben erfolglos. Georg Weber war tatsächlich ein Langweiler gewesen, der die Buchreihe „999 Krimiklassiker“ abonniert hatte, um damit das Regal in seinem Arbeitszimmer zu füllen. Ich zog wahllos einen Band heraus, es war natürlich „Mord im Orientexpress“. Auch Webers Kleidung inspizierte ich sorgfältig, in einer Jackentasche klimperte es nach Schlüsseln, fünf von ihnen hingen an einem eisernen Ring. Ich zeigte den Fund Sonja Weber.
„Oh, das sind Georgs Schlüssel! Die beiden Hausschlüssel, die für Keller und Briefkasten, den fünften kenne ich nicht.“ Und das war nun wirklich seltsam. Der Vermisste hatte seine Wohnung verlassen, ohne seine Schlüssel mitzunehmen, was heißen konnte, er habe sie nicht freiwillig verlassen. Wie aber kamen sie in die Jackentasche? Wieder etwas, worüber ich grübeln konnte. Ich steckte die Schlüssel ein, Sonja Webers Blick war so bewölkt wie eben beim Teetrinken.
30
Es dämmerte, als ich Sonja Weber verließ. Sie hatte mir, um auf freundlichere Gedanken zu kommen, einige Schwänke aus dem Leben ihres Bruders erzählt, mit dem erwarteten Ergebnis, dass ihr nach zwei Minuten keiner mehr einfiel. Georg Weber hatte als pubertierender Jugendlicher Himbeermarmelade in ein allzu luftig gebackenes Brötchen gespritzt, sein Vater herzhaft hineingebissen und sich übel verkleckert. Das war der Höhepunkt im bisherigen Leben des Verschollenen gewesen, und da an ein zukünftiges Leben aus naheliegenden Gründen nicht gedacht werden konnte, war auch mit weiteren Schandtaten nicht zu rechnen.
Die „Bauernschenke“ lag im Dunkeln, doch im Inneren fiel ein Teller zu Boden, eine Frauenstimme schimpfte, eine andere schimpfte zurück. An Montagen öffnete das Etablissement erst um 20 Uhr, wie ich dem Aushang entnahm. Also trollte ich mich
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