Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
der weise Satz: Der einzige Weg zum Herzen des Kapitalisten führt durch seinen Darmausgang. Krieche hinein und werde zum Torpedo einer sich emanzipierenden Arbeiterklasse, das Zäpfchen der Aufmüpfigkeit, welches eines nicht allzu fernen Tages explodieren und die proletarische Weltrevolution ausrufen möge. So steht es wortwörtlich bei Marx, nicht wahr, Borsig?“
„Ja, hab ich auch so gelesen“, bestätigte Borsig, ohne dass das Schalkeemblem auf seiner Mütze rot geworden wäre, „in der 3. Ausgabe mit dem Druckfehler auf Seite 34“.
Inzwischen standen wir vor dem LIDL. Mit beinahe feierlicher Geste überreichte Regitz Borsig einen Fünfeuroschein und wies ihn an, „ein prima Mittagessen für drei“ zu erstehen. Der so Beauftragte trollte sich vorfreudig. Regitz sah ihm milde lächelnd nach, packte mich zärtlich an der Schulter und zog seinen Mund sehr intim an mein rechtes Ohr. Regitz war kein Freund übertriebener Dentalhygiene.
„Höre, mein Sohn. Willst du dir einen Fünfziger verdienen? Du scheinst mir ein aufgewecktes Bürschlein und stehst knietief in der Arbeiterklasse. Komm heute Abend Punkt 9 zu Gebhardt und Lonig. Mir ist kurzfristig ein Mitarbeiter ausgefallen. Willst du?“
Ich nickte spontan, denn wer kann schon fünfzig guten Argumenten widerstehen oder gar wissen wollen, wie er sie verdienen soll? „Brav“, lobte Regitz und drückte mich an seine Brust.
Borsig erschien nach endlosen 20 Minuten. „Hast du das Bier selber brauen müssen oder was?“ maßregelte ihn Regitz. „Nee, aber war ne riesen Schlange an der Kasse. Heut is doch bei LIDL Erstverkaufstag von Peter J. Kraus, >Joint Adventure<“.
Regitz tat einen überraschten Satz vorwärts und packte Borsigs Kragen. „Der neue Kraus bei LIDL? Und du Unglücksmensch bringst mir keinen mit? Marsch wieder rein mit dir! Peter J. Kraus lese ich immer mit dem allergrößten Vergnügen. Ein unverächtlicher Vertreter des literarischen Proletarismus im Subgenre des laid back hardboiled. Welcher Verlag?“
„Conte, glaub ich“, glaubte es aus Borsigs zugeschnürter Kehle, „12,90 Euro, Broschur“.
„Conte“, wiederholte Regitz ehrfürchtig, „ja, ein verdienstvolles Haus, prima Jungs. Also sofort kaufen!“
27
(Achtung! Auch in dieser Folge findet sich illegales und leserverachtendes product placement!) Nach einem aus Lyoner, Baguette und Bier kennerös komponierten Mahl trennten sich unsere Wege. Ein Mercedes der gediegenen Mittelklasse fuhr vor, am Steuer saß – ich traute meinen Augen kaum – jenes studentische Fräulein, das mich heute Morgen für Hartz IV hatte begeistern wollen und von Regitz in harscher Diktion sexuell kompromittiert worden war. Ein „Heut Abend um 9, aber Punkt!“ zurücklassend, stieg Regitz ein und machte sich sogleich oral an der Chauffeuse zu schaffen. Ich muss selten dämlich aus der Wäsche geschaut haben.
„Tja“, erklärte Borsig mit Genießerzungenschlag, „die hat der Chef letzte Woche flottgemacht. War nicht schwer. Alle Studentinnen haben einen Vaterkomplex, musste wissen. Und die Anja besonders.“
Jetzt wusste ich es.
Meine sauer verdienten zwanzig Euro mussten sofort in Lebensmittel investiert werden und so begab ich mich nach kurzer S-Bahn-Fahrt zum Sozialdiscounter ARIANE. Hier konnten Waren zum halben Preis erworben werden, ARIANE galt auch als der Discounter mit der schnellsten Kundschaft, denn wer zu langsam war, erreichte die Kasse unter Umständen erst, wenn das Haltbarkeitsdatum der Produkte abgelaufen war.
ARIANE verfügte merkwürdigerweise auch über eine Miederabteilung, in der verführerische Dessous der Marke NORA feilgeboten wurden. Eine Art Musenfalle, konnte doch hier, wie es in der Werbung hieß, die Erstausrüstung für den Ausstieg aus dem Prekariat erworben werden, Edelkokotte, ein Beruf mit Zukunft, gewissermaßen, in dem sich die Leistungsträger an den Reizwäscheträgerinnen abarbeiten konnten.
Mein Guthaben war bis auf einen Fünfer aufgebraucht, das Wetter immer noch indiskutabel. Ich trug meine Einkäufe nach Hause und kam an Jürgens Bioladen vorbei, wo mich ein paar Mandarinen orangen anlachten. Jürgen stand, wie fast immer, hinter der Theke und las in einem Krimi. Mein Erscheinen riss ihn aus der kriminellen Fiktion in die nicht weniger kriminelle Wirklichkeit.
„Mach mal für 3 Euro Mandarinen“, sagte ich sanft, denn laute Töne mochte Jürgen nicht leiden.
„Drei Euro?“ Jürgens Gesicht mutierte zum Fragezeichen. „Das
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