Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
zu verdanken? MIR! Wer hatte es ihm ermöglicht, ein Abenteuer nach dem anderen zu erleben? ICH! Nein, ich bin weder größenwahnsinnig noch arrogant, denn ich bin schließlich kein Krimiautor. Aber die Wahrheit wird man ja wohl noch sagen dürfen, oder?
Jedenfalls zockelten wir hinter Oxana und Vika und den Kids über die trostlosen Straßen zwischen Großmuschelbuch und der Stadt, Marxer summte ein Lied, das wie „We are the champions“ klang, warf mir bisweilen einen erniedrigenden, bestenfalls mitleidigen Blick zu und sagte schließlich, als wir den Stadtrand erreicht hatten: „Und jetzt? Was belieben der großartige Detektiv jetzt zu tun?“ „Erst mal was Vernünftiges essen“, antwortete ich sehr cool. „Aha“, sagte Marxer. „Ich würde dich ja zu mir einladen, befürchte jedoch, Fräulein Oxana weigert sich, uns etwas zu kochen.“
Ich antwortete darauf nicht. Mir stand der Sinn sowieso mehr nach kontemplativer Einsamkeit, einer kleinen Ruhepause nach all diesen Ereignissen. Ich würde mich in die Massenabfertigungshalle des nächsten Kaufhauses setzen, ein Tablett mit kaum genießbaren warmen Speisen vor mir, umzingelt von shoppingwütigen Hausfrauen mit schmerzenden Hühneraugen, schlechtgelaunten Kindern und gelangweilten Pensionären, grummeligen Angestellten, die sich durch ihre kurze Mittagspause gabelten, und den üblichen Kleinganoven, die auch mal eine Pause brauchten.
Na schön, ich hatte nicht die leiseste Ahnung, worüber ich nachdenken sollte. Und ich wollte jetzt auch nicht darüber nachdenken, worüber nachzudenken sei. Ich wollte nicht einmal darüber nachdenken, warum ich unbedingt nachdenken wollte, obwohl mir partout nicht einfiel über was. Ja, ich hatte nicht einmal richtigen Hunger. Vielleicht sehnte ich mich nach der Normalität des Dasitzens, der Normalität des Registrierens von Normalität, nach all den Hausfrauen und Kindern und Rentnern und Angestellten und Ganoven, nach all dem richten Leben, das deshalb das richtige Leben war, weil ums Verrecken nichts darin passieren wollte, über das nachzudenken sich lohnte. Hey, ich philosophierte gerade schwer. Marxer lenkte seinen Wagen Richtung Fußgängerzone, es war ihm zuzutrauen, dass er ihn IN die Fußgängerzone lenken würde, er war schließlich – siehe oben – größenwahnsinnig und arrogant, kurz: Er war auf bestem Wege, ein deutscher Politiker zu werden. „Da vorne kannst mich rauslassen“, entschied ich spontan.
Endlich allein. Endlich nur noch ich und meine Gedanken. Verdammt: meine Gedanken. Hätte ich sie nicht besser in Marxers Wagen lassen sollen? Georg Weber fiel mir wieder ein, der verdammte Georg Weber. Dann fiel mir Sonja Weber ein, was optisch schöner war, aber auch nur optisch. Borsig fiel mir ein, den ich anrufen und nach dem Ergebnis seines Karnevalsprinzenbesuchs fragen sollte. Hermine fiel mir ein, die auf ein Lebenszeichen von mir warten mochte.
Merkwürdigerweise fiel mir auch dieser Kriesling-Schönefärb ein, der verschwunden war. Wie es ihm wohl gerade erging? Wo er sich wohl gerade aufhielt? Ich wollte es mir nicht vorstellen. Ich wollte nur nachdenken. Etwas Schlechtes essen und etwas Schlechtes denken. In beidem besaß ich Erfahrung.
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Elend und Fata und wundersame Errettung des jungen Mannes Kriesling-Schönefärb in turbulenten Zeiten
Wo war er? Ein fensterloser Raum, kaum breiter als die harte Pritsche, auf der er erwachte. Die Tür stählern, mit einem kleinen Glasviereck auf Mannshöhe. Schritte, die über Flure hallten, das Weiß der Wände eher ein schmutziges Grau und trostlos. Wo war er, Kriesling-Schönefärb, bis vor kurzem noch hoffnungsvoller Nachwuchs im politisch-diplomatisch-technokratischen Dienst? Im Knast. Abgestürzt. Ein armes Schwein im freien Fall, ohne Netz, ohne Hoffnung.
Und was erwartete ihn? Folter, welcher Art auch immer. Das war jetzt nicht die Zeit für einen historischen Rückblick auf die Geschichte der physischen und psychischen Tortur, die man Menschen zukommen ließ, die von der Norm abwichen und dadurch gefährlich geworden waren. Eiserne Jungfrauen und Streckbänke, Waterboarding und 24stündiges Beschallen mit der B-Seite eines alten Catharina-Valente-Hits. Oder die diffizileren Geschichten wie Liebesentzug, subtile Bedrohungen, der angedeutete Verlust der Wonnen des ewigen Lebens. Nein, diese Zeit war es nicht. Es war die Zeit der Angst vor sich selbst, vor der eigenen Schwäche, vor der Kapitulation. Kriesling-Schönefärb
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