Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
gekidnappt worden oder sie war nicht gekidnappt worden. War sie nicht gekidnappt worden, gab es wiederum zwei Möglichkeiten: Entweder war sie nicht gekidnappt worden, weil man sie nicht wollte – oder sie war nicht gekidnappt worden, weil sie selbst mit den Kidnappern zusammengearbeitet hatte. Die letzte Möglichkeit war die weitaus schlimmste, aber nicht die weitaus unrealistischste.
Es entstand nun ein Gesprächspause, die Brüggink dazu nutzte, sich mit einem verknüllten Papiertaschentuch und Spucke die Lippen zu säubern. Nach einer Stunde wurde die Tür geöffnet, ein Uniformierter – keiner von denen, die Kriesling-Schönefärb bisher kennengelernt hatte – brachte ein Tablett mit Brot, Aufschnitt, Margarine und Tee, drückte es Kriesling-Schönefärb in die Hand. Entweder durften sie nicht reden oder für den Job wurden nur Taubstumme genommen.
„Wenigstens klappt die Versorgung“, sagte C und griff zu. Es gab auch ein stumpfes weißes Plastikmesser, mit dem der Konsul sich routiniert die Margarine fingerdick auf die Brotscheibe strich. „Schmeckt zwar obligatorisch scheiße, aber auf Island haben mich die Säue drei Tage lang hungern lassen. Mein Schneider wird sich freuen, wenn ich ihn das nächste Mal besuche.“
Optimist, dachte Kriesling-Schönefärb. Er hatte keinen Appetit. Brauchte auch keinen, denn der Konsul erwies sich in der Vertilgung der Nahrungsmittel als souverän.
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„Ich bin mein ganzes Leben lang nichts anderes gewesen als ein elendes Schwein und für mein Verhalten gibt es keine Entschuldigung.“ Dieses Geständnis Brugginks kam ebenso unvermittelt wie unerwartet. Gerade noch hatten sich die beiden Männer auf einen provisorischen Belegungsplan für die einzige Pritsche geeinigt, abwechselndes Schlafen im Vier-Stunden-Rhythmus. Kriesling-Schönefärb verfluchte hernach seine vorherige Appetitlosigkeit. Er hätte einen halben Ochsen mit Haut und Knochen verspeisen können, zur Not auch ein trockenes Brötchen.
„Das schockiert Sie jetzt“, fuhr Bruggink fort und, ohne auf Antwort zu warten (die Kriesling-Schönefärb auch nicht zu geben bereit war, denn es schockierte ihn keineswegs), begann mit seiner Lebensbeichte.
„Mein Vater war ein degenerierter Hurenbock, sorry to say. Er konnte SEIN DING aus keiner von der Natur dafür vorgesehenen Öffnung – von den anderen ganz zu schweigen – raushalten, er selbst hat darunter gelitten wie ein Hund, denn eigentlich war er ein nachdenklicher Homme d'Esprit, aber DAS VERDAMMTE DING! Leider hat er dann die Frauen für seine Schwäche verantwortlich gemacht. Er war insgesamt viermal verheiratet, mit meiner Mutter noch am längsten, doch auch diese Ehe ging nicht gut. Ich bin also ein typisches traumatisiertes Scheidungskind beziehungsweise ein Beziehungswaise – oh nein, ich bringe das nicht als Entschuldigung für meine Lebensführung vor, aber es ist doch so: Was hätte ich denn machen sollen? Da wird man doch quasi gegen seinen Willen in die Spur des Vaters gesetzt, der, auch das muss ich erwähnen, ein im Grunde seines Herzens höchst sozialer Mensch war, nur dass er leider diesen Grund irgendwie nie erreicht hat. Immerhin: Menschen wurden von ihm nur insofern ausgebeutet, als er ihre Leben ruinierte, Gewalt war dabei niemals im Spiel, also physische Gewalt, wenn man einmal davon absieht, dass er seine Ehefrauen krankenhausreif geprügelt hat und mich nebenbei auch. Ja, ich war lernfähig, leider, aber kann man mir das zum Vorwurf machen? Einerseits pocht man auf Familienbande – und wenn dann einer wie ich sich den eigenen Vater zum Vorbild nimmt, ist es auch nicht rechtens. Ist das in Ordnung?“
Auch hier erwartete Bruggink keine Antwort. Er befand sich gerade in einer Phase nostalgischen Selbstmitleids, er sah den kleinen Knaben, der er einmal war, vor sich, den Knaben, dem der Vater den Arsch versohlt und dann einen Hunderter fürs Puff zugesteckt hatte, wo sich der Knabe gerade wieder, diesmal aber gegen Bezahlung, den Arsch versohlen ließ.
„Ich bin also mit Gewalt in jeglicher Form großgeworden, das hat mich geprägt. Nein, noch einmal: Keine Entschuldigung! Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich, aber was hätte ich denn tun sollen? Ich kannte doch nichts anderes! Außerdem besaß ich schon früh das Talent, meine Mitmenschen zu instrumentalisieren. In der Schule nannte man mich den „kleinen Hitler“ oder wahlweise den „großen Charlie Chaplin“, denn glauben Sie mir eines: Sobald ich
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