Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
aufgeregt. Er hatte nur auf das Tablett geschaut, auf den Teller mit Braten, Kartoffeln und einer Art Gemüsebrei, auf die kleine Flasche Mineralwasser daneben. Urinstinkte, Hunger und Durst. Kaum war der Uniformierte verschwunden, machte sich der Gefangene über das Essen her, trank aber vorher die Flasche beinahe vollständig aus.
Das Essen schmeckte nach Kantine, also nach gar nichts. Es war zerkocht, enthielt nur von Spurenelemente von Spurenelementen, Andeutungen von Mineralien und Vitaminen, dafür umso mehr Fett und Kohlehydrate. Aber das war kaum die geeignete Gelegenheit, über gesunde Ernährung zu räsonieren. Das Zeug machte satt und nur darauf kam es an. Mit dem letzten Rest Wasser spülte Kriesling-Schönefärb nach, stellte das Tablett auf den Boden und brachte sich selbst auf der Pritsche in Rückenlage, starrte gegen die Decke und hörte seinem Bauch beim Grummeln zu.
Wie lange würde das so weitergehen? Tage, Wochen, Monate, Jahre? Einfach so, ohne etwas anderes? Kriesling-Schönefärb wollte nicht undankbar sein, nein, keineswegs, aber er vermisste den Kaffee danach. Dafür kamen die Gedanken danach. Man wollte ihn weichkochen, bevor man ihn verhörte. Wie das Essen, jawoll. Er war menschlicher Kantinenfraß, leichte Beute für Zahnlose. Ach übrigens: Kantinenfraß. Was, wenn er gleich zur Toilette musste? Hier gab es keine, nicht einmal den obligatorischen Eimer mit Deckel in der Ecke. Gab es wenigstens so etwas wie eine Klingel? Die er würde drücken können, um jenen Uniformierten – oder einen seiner Kollegen auf den Plan zu rufen? Jemand, dem er sagen konnte: Ich muss mal Pippi, ich muss mal ganz dringend was abseilen? Gab es nicht. Sehr blöd.
Aber das hier war ein professioneller Kerker, hier schwirrten Uniformierte rum! Die mussten doch wissen, dass der Nahrungsaufnahme die Nahrungsausscheidung folgt! Herrgott, immer diese unnötigen Komplikationen! Kriesling-Schönefärb lauschte in sich hinein. Tat sich schon was? Noch nicht. Würde aber bald.
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Ach du lieber Gott! Da hatte es gerade die Andeutung eines Lichtblicks gegeben – zwei schweigende Uniformierte, die Kriesling-Schönefärb zur Toilette führten, wo ein diskretes Geschäft in halber Öffentlichkeit erledigt werden musste – und dann, bei der Rückkehr in die Zelle, das: letztere war belegt. Mit einem dicken Mann, der gekrümmt auf der Pritsche saß und vor sich hin ächzte. Als Kriesling-Schönefärb die Zelle betrat, sah der Mann auf und sagte: „Moin, Kollege.“
Das Gesicht des Mannes hatte in letzter Zeit nicht unter physischer Langeweile gelitten. Die Augen geschwollen und farblich irgendwo zwischen rot und blau und schwarz, die Nase bedenklich schief, die Lippen spröde und blutig. Sogar an den Ohren schien sich jemand sadistenmäßig ausgetobt zu haben. Der Mann selbst war gut über 50, dick wie gesagt, er trug einen blauen Trainingsanzug, der ihm viel zu klein war. „Gestatten, Konsul Bruggink. Mit wem habe ich die Ehre?“
Kriesling-Schönefärb sagte seinen Namen, der aber Brüggink nichts zu sagen schien. Er nickte bloß und wies auf den freien Platz neben sich. „Wir kennen uns aber nicht, oder?“ Kriesling-Schönefärb bestätigte das, unterschlug, dass ihm der Name durchaus etwas sagte. Konsul Brüggink. Den man auf Island.... Moment mal! Bedeutete das, er befand sich gerade in einem isländischen Knast?
„Wo sind wir?“ fragte Kriesling-Schönefärb. „Keine Ahnung“, sagte Brüggink. „Ich weiß nur, dass mich die Schweine in Reykjavik abgegriffen und eingesperrt haben und dann das, was sie „verhören“ nennen, also munter verprügeln. Später medikamentös betäubt – und jetzt bin ich hier, wo auch immer. Was wirft man Ihnen vor?“
„Weiß nicht“, sagte Kriesling-Schönefärb. Gegenfrage: „Und Ihnen?“ Brüggink lächelte. „Auch nichts Spezielles. Was mit Landesverrat, Hochverrat, Bildung einer terroristischen Vereinigung, Verletzung des Grundgesetzes, der Menschenrechte und dergleichen mehr. Ist aber egal.“
Egal war es Kriesling-Schönefärb nicht, wie sie hier wohl die Nacht verbringen sollten. Auf einer schmalen Pritsche, die für Brüggink schon unzureichend, für Brüggink und Kriesling-Schönefärb aber katastrophal sein würde. Er dachte unwillkürlich an seine letzte Nacht mit Sonja, da hatte das Bett gar nicht schmal genug sein können. Sonja. Sein Gesicht verfinsterte sich, weil seine Gedanken sich verfinsterten. Es gab zwei Möglichkeiten: Sie war auch
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