Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
wusste nicht, wie stark er sein würde, wie stark er bleiben würde. Er machte sich Hoffnungen, aber keine allzu großen. Vielleicht würde man ihn zwingen, eine rohe Zwiebel zu essen. Er hasste rohe Zwiebeln wie sonst kaum etwas auf der Welt. Er würde es nicht aushalten.
Und wie war er überhaupt in diese Situation gekommen, wie hatte ihn wer womit und wann und wo überwältigt? Partieller Gedächtnisverlust, ein paar wirre Bruchstücke vager Erinnerung. In den weichen, warmen Armen Sonja Webers, langsames Hinwegdämmern, das Glied pochte noch, aus Fleischeslust wurde Schläfrigkeit, das war der Himmel, das war das Höchste, was ein Mensch auf Erden erlangen kann. Und? Weiter?
Eine längere, unruhige Fahrt, wahrscheinlich im Kofferraum eines Autos. Aber was war vorher geschehen? Und, viel wichtiger, was war mit Sonja geschehen? Kriesling-Schönefärb sah an sich hinab, er trug einen Trainingsanzug, nichts aus seiner eigenen Garderobe. Okay, er war nicht in Guantanamo, dort trugen sie diese orangenen Overalls. Er befand sich wohl auch nicht in einem CIA-Gefängnis irgendwo in Rumänien oder Bulgarien oder Zentralasien. Er hatte Hunger, er hatte Durst.
Langsam richtete er sich auf, setzte sich auf die Pritsche und die Füße auf den kalten Steinboden. Seine Füße waren nackt und eisig, so eisig, dass er sie kaum noch spürte, nicht einmal, als er sie fest gegen den Boden stemmte. Er musste unruhig geschlafen haben, denn neben der Pritsche lag eine filzige braune Zudecke, wohl in einem Albtraum vom Körper gestrampelt. Kriesling-Schönefärb bückte sich, fasste die Decke, zog sie hoch, legte sie über sich, legte sich wieder hin, starrte nach oben.
Warten. Etwas anderes blieb ihm nicht. Er konnte nur hoffen, sich nach und nach zu erinnern, aber vielleicht sollte er nicht hoffen, vielleicht sollte ihn die Möglichkeit erschrecken. In Sonjas Armen, dann Filmriss, dann hier aufgewacht. Und die Fahrt dazwischen. Und ein unerträgliches, lautes Geräusch, wie von einem Flugzeugmotor. Hatte man ihn ausgeflogen? Wohin? Berlin? Ja, etwas in ihm sagte Kriesling-Schönefärb: Du bist wieder daheim. Berlin. Es ist die berühmte Luft, kein Zweifel, du hast sie so lange geatmet, du erkennst sie sofort wieder. Daheim. Irgendwo anders, aber daheim.
Jetzt kamen Schritte näher. Aha, dachte Kriesling-Schönefärb. Schritte, es geht weiter. Aber nichts ging weiter, nur die Schritte gingen weiter, entfernten sich, waren schließlich nicht mehr zu hören. Warten. Auf dem Rücken liegen und warten. Sich zu erinnern versuchen. Sonja. In ihren Armen und dann...
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Der Graf von Monte Christo. Dem war doch eine ähnliche Scheiße passiert, gelt? Lebendig begraben, aber er konnte entkommen und nahm bittere Rache. Fand einen Schatz. Nun, daran war im Falle Kriesling-Schönefärbs nicht zu denken. Auch glaubte er sich zu erinnern, man habe den Grafen wenigstens mit Essen und Trinken hinreichend versorgt, sonst hätte er die Jahre im Kerker wohl kaum überlebt. Speis und Trank ließen allerdings auf sich warten. Kriesling-Schönefärb war leicht beunruhigt.
Aber hatte der Graf in diesem Roman nicht an die Wand seiner Zelle geklopft? War ihm nicht durch Klopfzeichen geantwortet worden? Da der Gefangene nichts Besseres zu tun hatte, klopfte er jetzt ebenfalls gegen die Wand. Zunächst zögerlich und leise, dann immer bestimmter und fester. Tat sich aber nichts. Was hätte sich auch tun sollen. Bestenfalls ein Antwortklopfen, na und? Damit hätte Kriesling-Schönefärb gewusst, dass nebenan ein Leidensgenosse vegetierte. Leider beherrschte er die Klopfzeichensprache nicht, man würde sich also nicht austauschen können. „Guten Morgen, mein Name ist Kriesling-Schönefärb, ich bin entführt worden. Wie heißen Sie, woher kommen Sie? Wo sind wir hier, was wird man mit uns anstellen?“ Wie übersetzte man das in Klopfen? Viermal kurz, hundertachtzehn Mal lang oder wie?
Endlich! Schritte, die nicht vorbeigingen. Ein Schlüssel im Schloss, ein metallisches Ätzen und Quietschen. Dann wurde die Tür aufgestoßen, ein mächtiger Mann in Uniform – sah aus wie ein amerikanischer Navy-Offizier im Zweiten Weltkrieg – betrat die Zelle, ein Tablett in der Hand, das er kommentarlos auf dem Rand der Pritsche abstellte. Er musterte Kriesling-Schönefärb mit einem professionellen, routinierten, gelangweilten Blick, drehte sich um, ging hinaus, schloss ab, entfernte sich.
Kriesling-Schönefärb hatte nichts zu sagen vermocht. Zu
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