Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Vorbemerkung
Das sozialistische Zukunftsbild, das der Amerikaner Edward Bellamy im Jahre 1887 unter dem Titel „Looking Backward“ („Rückblick“ – die erste deut sche Übersetzung fügte hinzu „aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887“) veröffentlicht hat, ist eine konsequent durchgeführte sozialistische Utopie, die bewußt von den technischen Errungenschaften und den sozialen Widersprüchen der monopolkapitalistischen Produktionsweise ausgeht. Bellamy führt uns aber nicht in die Anfangspe riode einer sozialistischen Gesellschaft – er erwartete den Umschwung im Beginn des 20. Jahrhunderts –, sondern er versucht, einen bereits voll entwickelten Sozialismus zu schildern.
Marx hat in seinen Randglossen zum Gothaer Programm (1875) schon darauf hingewiesen, daß die vollendete sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaft nicht sofort durch die proletarische Revolution erreicht werden könne. Der Sozialismus ist selbst ein Entwicklungsprozeß. Marx unterschied zwei große Phasen. Der Sozialismus würde begonnen und aufgebaut durch eine Generation, die aus dem Schoße der alten Gesellschaft hervorgegangen, noch mit den Muttermalen der Klassengesellschaft behaftet sei. Die Verteilung der sozialistisch erzeugten Güter wird daher im wesentlichen nach dem Leistungsprinzip erfolgen müssen: „Jedem nach seiner Arbeitsleistung!“ Erst auf einer höheren Stufe, wo „die Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“ und die neuen sozialistischen Menschen herangewachsen sein werden, erst da hält Marx eine Güterverteilung nach dem sozial höchsten Prinzip: „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ für möglich. Bellamy, der die Schriften von Marx und Engels kaum gekannt hat, gibt in seiner Utopie ein Zukunftsbild einer fortgeschrittenen Phase des Sozialismus. Wie er im einzelnen die vielen Probleme des gesellschaftlichen Lebens im Sozialismus zu lösen sucht, ist nicht das Entscheidende. Man mag über manche der vorgeschlagenen Lösungen geteilter Meinung sein – wichtig ist, daß wir die Probleme selbst in ihrer Mannigfaltigkeit und ihrem inneren Zusammenhang erkennen. Der Durchschnittsmensch der kapitalistischen Welt ist dermaßen eingebettet in die Zustände der ihn umgebenden Gesellschaft, daß er sich nur sehr schwer aus dem Gefüge der bürgerlichen Klassengesellschaft herauszudenken vermag. Sogar für manche Sozialisten gilt die spöttische Bemerkung von Friedrich Engels, daß für solche Spießbürger der Sozialismus nichts weiter sei „als die bestehende Gesellschaftsordnung ohne ihre Mißstände“. Die sozialistische Vorstellungskraft ist eben außerordentlich unterernährt, und die Bedeutung eines Buches wie Bellamys „Rückblick“ besteht vor allem darin, unsere sozialistische Phantasie etwas beweglicher zu machen.
Wir haben freilich einen gewaltigen Vorteil voraus vor allen Menschen, die sich früher über eine sozialistische Zukunft Gedanken gemacht haben. Wir wurden Zeitgenossen der ersten siegreichen Revolution in der Welt. Seit mehr als 30 Jahren vollzieht sich der Aufbau eines sozialistischen Großstaates in aller Wirklichkeit. Es ist keine Frage, daß damit Zukunftsvorstellung und Zielrichtung viel klarer und bestimmter geworden sind. Mit seiner Oktoberrevolution 1917 hat Rußland ökonomisch, politisch und kulturell einen Sprung gemacht. Diesen Anschauungsunterricht kann keine Dichtung ersetzen und wäre sie noch so vollkommen, was Bellamys Roman sicherlich nicht ist. Welche wirtschaftliche Rückständigkeit des zaristischen Rußlands hätte die Sowjetunion zu überwinden! Wie hatte und hat sie als erste und einzige sozialistische Wirklichkeit sich der kapitalistischen Umwelt zu erwehren! Mit weichen Schwierigkeiten, heroischen Opfern und beispiellosem Arbeitsenthusiasmus mußte der Aufbau des Sozialismus durchgeführt werden! Es ist klar, daß der Sozialismus in der Sowjetunion noch nicht die Periode kommunistischer Vollkommenheit erreichen konnte.
Aber auch davon abgesehen, bleibt den sozialistischen Nachfolgern und Baumeistern späterer Zeit und anderer Länder eigenes Nachdenken nicht erspart. Jede sozialistische Zielsetzung unter neuen historischen Voraussetzungen und veränderter wirtschaftlicher Umwelt hat auch gewisse eigenartige und neue Aufgaben zu lösen. Es bleibt immer wichtig, bestimmte Probleme erst einmal zu sehen und durchzudenken. Auch das ist ein Teil des wissenschaftlichen Sozialismus, der in seiner materialistischen
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